Maghreb:Macron stellt Nordafrika auf den Kopf

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König Mohammed VI. von Marokko (r.) und der französische Präsident Emmanuel Macron 2017 beim Abendessen im Palast in Rabat. (Foto: Abdeljalil Bounhar/picture alliance / Abdeljalil Bo)

Ein Brief aus Paris an den König von Marokko verleiht dem Konflikt um die Westsahara eine brisante Dynamik. Warum Frankreich jetzt seine Neutralität im Maghreb aufgibt.

Von Oliver Meiler, Paris

Was soll einem König, der schon alles hat, noch Freude bereiten? Monarch Mohammed VI., für die Marokkaner auch das Oberhaupt der Gläubigen, hat gerade ein rundes Thronjubiläum gefeiert: 25 Jahre. Es waren bewegte Jahre, aber letztlich erfolgreiche. Das Land Marokko ist eine wirtschaftliche Regionalmacht geworden, hat seine Infrastruktur ausgebaut, den Wohlstand vergrößert und gesellschaftliche Reformen umgesetzt. Die sozialen Diskrepanzen sind noch immer groß, die Opposition wird kleingehalten.

Der König aber ist unverhandelbar, schon von Gesetzes wegen, obwohl sich um seine Person viele Gerüchte ranken. Zum Jubiläum gab es Zeremonien im ganzen Land, Treueeide, viele Geschenke.

Tonnenschwere Worte, die den Rivalen Marokkos entrüsten

Doch ein Brief aus Paris übertraf alles, einer mit genau gewogenen, tonnenschweren Worten. Unterzeichnet hat ihn Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, bisher nicht gerade ein Freund von „M6“, wie man Marokkos König kurz nennt. Mit ein paar Formulierungen zum Schicksal der umkämpften Westsahara – einem 266 000 Quadratkilometer großen Stück Wüste am Atlantik im Süden Marokkos, einst eine spanische Kolonie, ungefähr 600 000 Bewohner – stellt Macron mal schnell die Geopolitik Nordafrikas auf den Kopf, nicht weniger.

Diese Formulierungen sind nämlich ganz im Sinne Marokkos, und sie entrüsten deshalb Algerien: Die Nachbarn sind erbitterte Rivalen. Algier hat als Reaktion seinen Botschafter aus Paris abgezogen. In dem Brief heißt es, Frankreich sehe die Westsahara „in der Gegenwart und für die Zukunft im Rahmen der marokkanischen Souveränität“. Der Autonomieplan, den Marokko 2007 vorgelegt habe, sei „die einzige Basis“ für eine „dauerhafte und gerechte Lösung“. Früher, als Paris sich noch neutral gab zwischen Rabat und Algier, nannte man diesen Plan „eine Lösung“. Vom unbestimmten zum bestimmten Artikel: Das macht hier den ganzen Unterschied.

Oder anders gesagt: Frankreich, als frühere Kolonialmacht in der Gegend in einer delikaten Lage, schlägt sich entschieden auf die Seite von Marokko. Warum die Franzosen das tun, davon wird gleich noch die Rede sein. Aber zunächst einige historische Eckdaten: 1975 entließ Spanien die Westsahara in die Freiheit. Marokko nahm sich das Gebiet, machte es zu seinen „Südprovinzen“, die Gebiete sind reich an Phosphat und an Fischgründen vor der Küste. Der Vater von Mohammed VI., Hassan II., erhob die Westsahara mit einem Volksmarsch in den Süden noch im Jahr des spanischen Abzugs zur nationalen Sinnfrage. „Marche verte“ nannte er ihn, grüner Marsch. Er wurde zum Staatsmythos.

Algeriens Traum von der Atlantikküste

Die Sahrauis, wie die Bewohner der Westsahara heißen, versuchen seither, sich zu wehren, militärisch und politisch: Es ist ihnen die Entkolonialisierung geraubt worden. Sie fordern ein Referendum, um selbst über ihre politische Zukunft bestimmen zu können. Unterstützt werden sie dabei von Algerien, das seinerseits immer schon von einem Zugang zum Atlantik träumte. Die Atlantikküste der Westsahara ist 1100 Kilometer lang.

Das Meer haben viele Sahrauis allerdings schon lange nicht mehr gesehen. Seit bald fünfzig Jahren leben etwa 170 000 Menschen aus der Westsahara in Zeltlagern in Tindouf, im Südwesten Algeriens, ihrem Exil. Die sahrauische Befreiungsarmee, die Polisario, hat dort ihr Hauptquartier. Eigentlich eine unhaltbare Situation. Die Jüngeren haben überhaupt nie in ihrer Heimat gelebt. Auch die Vereinten Nationen finden, die Sahrauis sollten ein Recht auf Selbstbestimmung haben, so steht es in einer Resolution.

Damit die regelmäßigen Scharmützel an der Grenze nicht zu einem Krieg ausarten, stellen die UN eine Mission, die Minurso, kurz für „Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un referendum au Sahara occidental“. Es gibt sie nun schon seit 1991. Ein Konflikt, der seit Langem schwelt. Flammt er nun erneut auf?

Trotz aller Widersprüche dreht der Wind

Rabat will die Sahrauis nicht abstimmen lassen, Marokko wollte das nie, denn sie könnten das Referendum ja gewinnen. Zehntausende Beamte hat Marokko aus dem Norden nach El Aaiún entsandt, dem Hauptort der Westsahara. Sie erhalten Sonderprämien fürs Leben in der Wüste. So schafft Rabat Fakten, die Marokkaner kontrollieren etwa achtzig Prozent der Westsahara, sie haben sie de facto schon lange marokkanisiert. Auch die vorgeschlagene Autonomie wirkt da wie eine Schimäre: Wie lange würde Marokko den Sahrauis das Budget und die Verwaltung wohl tatsächlich überlassen?

Trotz aller Widersprüche und der historischen Ungerechtigkeit dreht nun der Wind, und der König gewinnt auf ganzer Linie. 2020 hatten sich schon die USA hinter Marokko gestellt, mit einem Tweet vom damaligen Präsidenten Donald Trump. Im Gegenzug normalisierte Marokko seine Beziehungen zu Israel. 2022 bezog Spanien klar Position, ebenfalls zugunsten Marokkos. Und nun also Frankreich, neben den USA schon das zweite ständige Mitglied im Sicherheitsrat. Ein möglicher Gamechanger.

Le Figaro schreibt von einem „spektakulären Revirement“ und von einem „Donnerschlag“. Macron und Mohammed VI. legen ihre kolossale Verstimmung bei, die das Verhältnis zwischen ihren Ländern seit einigen Jahren belastete. Die beiden hatten schon nicht gut begonnen miteinander.

Ärger um die Abhörsoftware Pegasus

Kaum war Macron 2017 Präsident geworden, reiste er mit seiner Frau nach Marokko, eine viel beachtete Ehrerweisung. Für das Dafürhalten des marokkanischen Protokolls gab sich der Gast aber viel zu kumpelhaft mit dem König, klopfte ihm auf die Schultern, er soll ihn gar geduzt haben. Mohammed VI. ist zwar kein überformaler Monarch; als er König wurde, war er erst 35 Jahre alt. Er galt als modern, zumindest war er das im Vergleich zu seinem Vater. Aber das Du? Geht gar nicht. Richtig kompliziert wurde die Beziehung, als bekannt wurde, dass Rabat mit der israelischen Software Pegasus unter anderem auch Macrons Handy abgehört haben soll.

Danach waren alle Linien gekappt, eine beispiellose Verwerfung. Der König, mittlerweile 60 Jahre alt und krank, reist zwar ständig nach Paris, um sich behandeln zu lassen. Woran er genau leidet, ist nicht bekannt. Macron wollte er aber nie sehen. Macron wiederum sollte schon seit geraumer Zeit nach Marokko reisen. Doch er vertagte den Besuch immer wieder, zuletzt mit der Erklärung, die politische Lage in Frankreich verlange seine volle Präsenz.

Aussicht auf neue Geschäfte

Nun aber ist plötzlich alles gut. Macron hat mit seinem Brief exakt die Geste geleistet, mit der genau richtigen Phrasierung, die der König für eine Versöhnung erwartet hatte. Es kam auch sofort ein Brief zurück. Aber warum bewegte sich Macron jetzt doch? Le Monde berichtet, der Präsident habe vor der Versendung seines Briefs eine Reihe großer französischer Konzerne in den Élysée-Palast eingeladen, um sie vorab über seine Kehrtwende zu unterrichten: EDF, Saint-Gobain, Engie, Safran, Total. Offenbar gibt es gute Aussichten auf neue Geschäfte in Marokko und der Westsahara.

Macron muss zu der Erkenntnis gelangt sein, dass ihm gute Beziehungen zu Marokko mehr bringen als gute Beziehungen zu Algerien. Um Letztere hatte er sich lange bemüht, bis er aufgab. Beides gleichzeitig geht ohnehin nicht: Im Maghreb ist man entweder mit Marokko oder mit Algerien. Und Frankreich hat sich für Marokko entschieden.

Die Marokkaner, Frankreichs wichtigste Handelspartner in der Region, bieten auch geopolitisch mehr als die Algerier. Sie haben zum Beispiel die besseren Verbindungen in die unstete Sahelzone, wo die Franzosen seit den Staatsstreichen in Mali, Burkina Faso und Niger empfindlich an Einfluss verloren haben. Die französischen Geheimdienste sind angewiesen auf gute Informationen über die Aktivitäten dschihadistischer Gruppen in der Gegend, und eine Kooperation funktioniert dann gut, wenn die Herrschaften an der Macht sich verstehen.

Mohammed VI. ließ schon ausrichten, er freue sich auf den baldigen Besuch des Präsidenten aus Frankreich, dem steht jetzt nichts mehr im Weg. Und wer weiß, vielleicht ist es dann Zeit für das Du.

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