Süddeutsche Zeitung

Westliche Allianz: In der Nato herrscht ein enormes finanzielles Ungleichgewicht

  • Die Nato-Staaten haben vereinbart, künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben.
  • Die allermeisten Staaten erreichen derzeit aber noch nicht einmal 1,5 Prozent.
  • 2016 werden die USA nach einer Nato-Statistik 664 Milliarden Dollar für Verteidigung ausgeben.
  • Alle 26 europäischen Nato-Staaten zusammen geben knapp 239 Milliarden US-Dollar aus.

Von Daniel Brössler und Christoph Hickmann, Brüssel/Berlin

Wenn es um die Zukunft der westlichen Allianz geht, erzählt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg neuerdings gerne eine Geschichte aus seiner eigenen Vergangenheit. In seiner Heimat Norwegen sei er in den Neunzigerjahren Finanzminister gewesen, berichtet Stoltenberg dann, und habe sich in dieser Funktion leidenschaftlich dem Kürzen der Verteidigungsausgaben gewidmet.

Der oberste Sekretär der westlichen Militärallianz klingt ein bisschen wie ein Priester bei der Beichte seiner Jugendsünden, wenn er bekennt: "Ich war sehr gut darin." Die kleine Geschichte hat aus Stoltenbergs Sicht auch eine Moral: "Wenn du die Verteidigungsausgaben senkst, wenn Spannungen abnehmen, musst du auch in der Lage sein, sie zu erhöhen, wenn die Spannungen zunehmen."

Die Spannungen haben zugenommen und nicht nur das. Der Sieg von Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl in den USA hat Schockwellen durch das Bündnis geschickt. Im Wahlkampf hatte Trump höchst unterschiedliche Dinge über die Nato gesagt, auch unfreundliche.

Das meiste lief auf die Klage hinaus, dass die Europäer es sich auf Kosten der Amerikaner gut gehen ließen. Auf Beistand könnten Verbündete künftig nur hoffen, wenn sie "ihre Rechnungen bezahlt" hätten. Stoltenberg erinnerte noch vor der US-Wahl daran, dass die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrages in jedem Fall gelte, auch im Falle angeblich nicht bezahlter Rechnungen.

Auch unter Clinton wäre der Druck auf die Europäer gestiegen

Stoltenberg wusste allerdings auch: Selbst unter einer Präsidentin Hillary Clinton wäre der Druck auf die Europäer gestiegen, deutlich tiefer in die Tasche zu greifen. Schon Barack Obama hatte das verlangt. "Es ist kein Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten die europäischen Verbündeten aufgefordert haben, mehr für Verteidigung auszugeben", sagte Stoltenberg in einer Brüsseler Grundsatzrede nach dem Trump-Sieg.

Tatsächlich herrscht in der Nato ein enormes Ungleichgewicht. 2016 werden die USA nach einer Nato-Statistik 664 Milliarden Dollar für Verteidigung ausgeben; alle 26 europäischen Nato-Staaten zusammen geben knapp 239 Milliarden US-Dollar aus. Die Klage darüber höre er nicht erst von Trump, sagt Stoltenberg, sondern "von jedem Senator und Abgeordneten, mit dem ich seit meinem Amtsantritt gesprochen habe".

Mit dem Sieg von Trump allerdings hat die Dringlichkeit deutlich zugenommen. Umso mehr, als er bislang in Nato-Dingen gelinde gesagt als unberechenbar gilt. Wenn der neue US-Präsident im kommenden Jahr zum Nato-Gipfel nach Brüssel kommt, würde ihm Stoltenberg in der Finanzfrage gerne ein europäisches "Wir haben verstanden" präsentieren. Weshalb er, wie er erzählt, in den Mitgliedstaaten nicht nur den Kontakt zu Regierungschefs und Verteidigungsministern, sondern auch zu Finanzministern suche.

Im Prinzip kann er sich auf ein schon seit Jahren deklariertes Ziel berufen, zu dem sich alle Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel in Wales 2014 ausdrücklich noch einmal bekannt haben: dass alle Nato-Staaten künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben. Innerhalb "eines Jahrzehnts" wolle man die Marke erreichen, heißt es in der Gipfel-Erklärung.

Ein Blick in die aktuelle Nato-Statistik lässt das als ziemlich unwahrscheinlich erscheinen. Nur fünf Staaten erreichen in diesem Jahr die Zwei-Prozent-Marke. Neben den USA mit 3,61 Prozent sind das Griechenland, Großbritannien, Estland und Polen. Die allermeisten Staaten erreichen noch nicht einmal 1,5 Prozent. Immerhin, macht Stoltenberg geltend, seien die Ausgaben vergangenes Jahr auf die ganze Nato gerechnet nicht mehr zurückgegangen.

Und die Deutschen? Stellen sich ohnehin seit längerer Zeit auf höhere Ausgaben ein. Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl, so formulierte es Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vergangene Woche im Bundestag, wäre die Forderung an Europa gekommen, "mehr Lasten zu schultern". Dabei verwies sie auf ihren Etat, der im Vergleich zum vorigen Verteidigungshaushalt um 2,7 Milliarden auf 37 Milliarden Euro gewachsen ist. Bis 2020 sollen die Ausgaben für Verteidigung nach jetzigem Stand auf mehr als 39 Milliarden Euro steigen und damit deutlich stärker als der Gesamthaushalt.

Bundeswehr kämpft weiter mit teils erschreckenden Materialmängeln

Doch auch damit liegt die Bundesrepublik noch weit unter dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato und nicht einmal in der oberen Hälfte der Statistik. Mit dem aktuellen Etat, so rechnete von der Leyen vor, komme man immerhin auf 1,22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir wissen aber alle, dass sich das noch weiter verstetigen muss." Zudem müsse man innerhalb der EU deutlich effizienter werden.

Wobei auch die Bundeswehr trotz der Mehrausgaben weiter mit teils erschreckenden Materialmängeln kämpft. Am Dienstag wurde ein Bericht aus dem Ministerium öffentlich, wonach etwa von den Kampfjets der Luftwaffe nur ungefähr ein Drittel einsatzbereit ist. Es wird noch Zeit und Geld kosten, hier besser zu werden.

Trotzdem sehen die Deutschen ihre Anstrengungen nicht immer ausreichend gewürdigt. So rechnen sie gern vor, dass die Zwei-Prozent-Vorgabe aus mehreren Gründen problematisch sei: Wenn etwa die Wirtschaftsleistung eines Staates schrumpfe, die Verteidigungsausgaben aber konstant blieben, dann steige der prozentuale Anteil, ohne dass der Staat mehr beitrage. So gesehen, würde wirtschaftliche Stärke, ausgedrückt in hohen Wachstumsraten, eher bestraft. Außerdem würden etwa in Großbritannien die Ausgaben für Atomwaffen mitgerechnet, obwohl diese nicht der Nato zur Verfügung stünden, sondern die nationale Souveränität garantierten.

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SZ vom 30.11.2016/dit
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