Buch über den "Westfeldzug 1940":Der Zusammenbruch

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Ein Land zerstört innerhalb von Wochen: Kradeinheit der Wehrmacht auf der Fahrt durch eine zerstörte französische Stadt während des Vormarsches auf Dünkirchen. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Frankreichs Niederlage gegen NS-Deutschland wird gern rein militärisch analysiert. Raffael Scheck interessiert sich aber dafür, was Franzosen und Deutsche im Jahr 1940 sahen, taten und fühlten. Dieser Blick öffnet neue Horizonte und macht eine kühne These plausibel.

Rezension von Clemens Klünemann

"Spiegel der Zeiten " hieß ein dreibändiges Schulbuch, mit dem man in den 1970er-Jahren das Interesse von Jugendlichen an der Vergangenheit zu wecken suchte - einer Vergangenheit, die sich für viele nicht nur junge Menschen indes als längst vergangen anfühlte. Spätestens seit dem Beginn des offenen Krieges Russlands gegen die Ukraine vor gut zwei Jahren scheinen die Dämonen der Vergangenheit, die man "bewältigt" zu haben glaubte, wieder aufzutauchen. Vor diesem Hintergrund lesen sich manche Passagen in Raffael Schecks Buch "Frühling 1940" über den deutschen Westfeldzug mit einer verstörenden Aktualität, scheint sich doch in der Tat die Gegenwart in der Vergangenheit zu spiegeln: Behauptet heute die russische Propaganda zynisch, die USA und ihre Verbündeten wollten gegen Russland "bis zum letzten Ukrainer" kämpfen, so hieß es auf den 1940 hinter der Front in Frankreich abgeworfenen Flugblättern der deutschen Propaganda, "dass England und die englischen Bankiers gerne bis zum letzten Franzosen kämpfen" wollten.

Und auch das überraschte Erschrecken im Februar 2022, als man sich plötzlich in einer Situation sah, die man für unmöglich gehalten hatte, ähnelt fatal und nachgerade spiegelbildlich der mentalen Situation der Bevölkerungen auf beiden Seiten der Front im Herbst 1939 und im Frühling 1940 nach einem Dreivierteljahr "Sitzkrieg": Anders als im Sommer 1914 war kaum jemand begeistert darüber, dass es zu einem weiteren deutsch-französischen Krieg, inzwischen dem dritten innerhalb von 70 Jahren, kam. Ja, man hatte sich doch - noch so eine Parallele - jahrelang in Versöhnungsritualen und Beteuerungen gegenseitigen Friedenswillens ergangen und die Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen für überwunden gehalten. Plötzlich ist der Krieg wieder präsent und wird seitens des Angreifers unter dem Vorwand geführt, dass die angegriffenen Gegner selbst eine Aggression planten.

Vom "Sitzkrieg" zum "Blitzkrieg"

Natürlich weiß Raffael Scheck, der als Historiker am Colby College im US-Bundesstaat Maine lehrt, dass Geschichte sich nicht wiederholt - jedenfalls nicht in der nüchternen Analyse, in der jeder Vergleich zwischen Gegenwart und Vergangenheit skeptisch zu betrachten ist. Anders verhält es sich mit der Erlebniswelt der beteiligten Menschen, und da hebt sein Buch über den Westfeldzug 1940, den die nationalsozialistische Propaganda sehr bald schon - wohl nicht zuletzt wegen der Ähnlichkeit zum Wort "Sitzkrieg" - als "Blitzkrieg" bezeichnete, mit interessanten Beobachtungen an, die einzelne britische Soldaten in ihren Aufzeichnungen und Tagebüchern festhielten: "Die älteren Kriegsteilnehmer erkennen Orte, an denen sie schon einmal gekämpft oder geruht haben. Die Erinnerung ist ergreifend und manchmal gespenstisch, wie ein Traum." Der Erste Weltkrieg, der bis dato ja schlechterdings "der Weltkrieg" war, ist für die Menschen in Europa im Frühjahr 1940 der überragende Bezugspunkt.

Anschein von Normalität: Deutsche Offiziere sitzen im Sommer 1940 in einem Straßencafé in Paris. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Diese Wahrnehmung, die von französischen, britischen und deutschen Kriegsteilnehmern geteilt wurde, führt Raffael Scheck schließlich zur Hauptthese seines Buchs - dass nämlich die wenigen Wochen um Mai und Juni 1940 den Zweiten Weltkrieg entschieden hätten. So kühn diese These angesichts des weiteren Kriegsverlaufs erscheint, so plausibel ist sie angesichts der Deutung der französischen Niederlage, die Scheck vorschlägt, und der Bedeutung, die er ihr zumisst: Durch die schnelle Niederlage Frankreichs habe sich die Hoffnung Stalins zerschlagen, dass die beiden kapitalistischen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich sich in einem jahrelangen Abnutzungskrieg gegenseitig schwächen und dann dem Kommunismus wie eine reife Frucht zufallen würden. Durch die schnelle Niederlage Frankreichs habe Hitler das deutsche Trauma eines Zweifrontenkriegs überwinden und so schon viel früher als geplant die Sowjetunion angreifen können; und schließlich habe Frankreichs schnelle Niederlage die Bereitschaft der amerikanischen Bevölkerung zum Kriegseintritt ihres Landes befördert.

Was erlebten und dachten die Menschen im Frühjahr 1940?

Die Erlebniswelt des Westfeldzuges sei, so Raffael Scheck, weit weniger erforscht als seine militärischen Seiten. Dies mag zutreffen, obwohl es ja die "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" eines Felix Hartlaub gibt, die sich in ihrer Subtilität so angenehm vom Zynismus in den "Strahlungen" Ernst Jüngers unterscheiden. Auf französischer Seite haben gerade die späte Entdeckung von Irène Némirovskys "Suite française " oder das ebenfalls auf Deutsch vorliegende Buch "33 jours " von Léon Werth schon vor Jahren einen tiefen Einblick in die Erlebniswelt der französischen Zivilbevölkerung gegeben, und das 2022 erschienene Werk "Comme un Allemand en France " präsentiert einem breiten französischen Publikum Briefe und Tagebuchaufzeichnungen deutscher Soldaten, die Frankreich angegriffen hatten und dann besetzten.

Demütigung für den Feind: Adolf Hitler mit Entourage im Juni 1940 vor dem Eiffelturm. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Komplementär zu diesen bekannten zeitgenössischen Wahrnehmungen aus dem Frühjahr 1940 ist Raffael Schecks Analyse dieser Erlebniswelt insofern, als er sie unter drei systematisierende Leitfragen stellt: "Wie formte das Erbe des Weltkriegs die unmittelbare Wahrnehmung der Menschen im Frühling 1940? Wie stellte sich für sie die Zukunft dar? Wie können wir die europäische und deutsche Geschichte aufgrund dieses direkten Einblicks in den historischen Moment besser verstehen?"

In vier Kapiteln und unter ständigem Bezug auf bisher in dieser Dichte noch nicht erschlossene persönliche Aufzeichnungen zahlreicher Beteiligter versucht Scheck, Antworten auf diese Fragen zu finden und dabei die außenpolitischen Konstellationen nicht aus den Augen zu verlieren. Aus den vielen Tagebuchaufzeichnungen deutscher Soldaten, welche gegen das zusammenbrechende Frankreich kämpften, wird ein bisher wenig beachteter Aspekt ihrer Erlebniswelt überdeutlich, der die These von der weit über das Militärische hinausgehenden Bedeutung des Frankreichfeldzuges stützt: die Begegnung deutscher Soldaten mit Menschen aus Afrika. Die an der Seite Frankreichs (und nicht immer ganz freiwillig) kämpfenden Soldaten aus Senegal und anderen afrikanischen Kolonien waren für die deutsche Propaganda eine Gelegenheit, die Niederlage des westlichen Nachbarn als "Sieg des rassisch gesäuberten Deutschland über ein degeneriertes Frankreich" zu feiern. Der militärische Erfolg wurde gleichsam rassistisch aufgeladen und kann in der Tat als Vorläufer der Brutalitäten gedeutet werden, die dann nicht nur im Rücken der Wehrmacht, sondern von deren Angehörigen selbst im Krieg gegen die Sowjetunion ein Jahr später begangen wurden.

Traut den Deutschen: Propagandaplakat der NS-Führung für die Franzosen, die damals kurz vor der Niederlage standen. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Das letzte Unterkapitel "Frankreichs Suche nach Erklärungen" für diese "seltsame Niederlage" (Marc Bloch) schließt den Bogen zum Beginn. Raffael Scheck zeigt, dass es weniger militärische Gründe waren, die Frankreichs Niederlage beschleunigten; vielmehr zitiert er einen französischen Offizier, der äußerte, er möge Frankreich mehr als Hitler, aber Hitler mehr als Léon Blum, den sozialistischen jüdischen Premierminister der Volksfrontregierung von 1936, welche die Kommunisten mit einschloss. Und laut den Äußerungen eines anderen französischen Offiziers "wusste kein Franzose wirklich, wofür er kämpfte". Die Bedeutung der Freiheit sei in den Jahren nach 1918 vergessen worden und die jungen Leute hätten nur leben und überleben wollen.

"Sonden im komplexen Zeitstrom"

Raffael Schecks Projekt, mit diesem Buch über den Frühling 1940 "Sonden in den komplexen Zeitstrom einzulassen und die Gefühle und Erwartungen von Menschen zu beleuchten, die ja nur die Vergangenheit und nicht die Zukunft kannten", erweist sich als überaus erhellend und öffnet Horizonte des Verstehens eines Ereignisses, das oftmals auf seine militärische Dimension reduziert wird. Die Erlebniswelt der damaligen Menschen zu begreifen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist womöglich das beste Mittel zu verhindern, dass die Gegenwart zum Spiegel der Vergangenheit wird.

Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

(Foto: Hoffmann und Campe)

Raffael Scheck: Frühling 1940. Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2024. 448 Seiten, 28 Euro.

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