Westerwelle, Trittin, Lafontaine:Buchhaltung im Breitwandformat

Als die Zahlen nur so sprudelten: TV-Dreikampf in der ARD mit dem Grünen Trittin, dem Linken Lafontaine und dem Oberliberalen Westerwelle.

Alexander Kissler

Sehr dick hatten sie die Backen aufgeblasen, die Damen und Herren von der Opposition. Das Geplänkel zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier tags zuvor sei eine Zumutung gewesen, nicht zeitgemäß, der erwartete Rohrkrepierer. Nun standen die FDP, die Linke und die Grünen selbst im Ring. Sie konnten, ja mussten alles besser machen.

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Wortgefecht mit vielen Zahlen (v.l.): FDP-Chef Westerwelle, Grünen Kandidat Trittin und der Vorsitzende der Linken, Lafontaine

(Foto: Foto: dpa)

Immerhin 75 Minuten war der ARD der "Dreikampf" wert. Es wurde ein Zahlengewitter vor dramatischer Kulisse: Buchhaltung im Breitwandformat. Alles war auf Größe getrimmt.

Dem sonntäglichen Kammerspiel sollte unbedingt der Kinofilm folgen. Nicht an Maschinen und nicht an Effekten hatten die veranstaltenden Sender, der Westdeutsche Rundfunk und der Bayerische Rundfunk, gespart.

Zur Einstimmung brüllte blechern eine Stimme vom Band, als kämpften gleich Gladiatoren um ihr Leben: "Sie stellen sich den Fragen von ..." Dann aber standen da nur der freundliche Herr Westerwelle, der coole Herr Trittin und ein saarländischer Brummkreisel mit Namen Lafontaine.

Ihnen gegenüber lauerten die nicht eben als verwegen geltenden Moderatoren Sigmund Gottlieb und Jörg Schönenborn, frisch frisiert der eine, mit frischen Zahlen gerüstet der andere.

Allein das Studio verhieß bis zuletzt großes Kino. Im "E-Werk" zu Berlin ließe sich bequem die Fortsetzung von "Das Boot" drehen samt Wasserschlacht, die "Odyssee im Weltraum", Teil zwei, oder zumindest eine Folge der täglichen Schlaumeierei mit Ranga Yogeshwar, "Wissen vor acht".

Man sah stets auf Stahlgerüste, auf Wände aus Ziegelstein, auf Eisenrohre und auf Gitter ohne Zahl. Einmal war die Kamera am äußersten Studiorand platziert, sodass der arme Trittin plötzlich wie eingesperrt hinter Gittern hervorlugte.

Hatz nach der größeren Zahl

Überhaupt sorgten rasche Schnitte und bewegliche Kameras für einen Hauch von Hollywood: Kreisfahrten, Hände in Großaufnahmen, fast bildfüllend Nasen. Zuweilen sah man die Studiopracht von oben. Insektenklein erschienen die Kombattanten, wurden zum Beiwerk der Industriekulisse. Selten war so viel Wille zur Kunst bei einer politischen Debatte sichtbar.

Das musste schief gehen. Nervig war auf die Dauer nicht nur der penetrante Hall, wie er eben entsteht, wenn wenige Menschen in einem riesigen leeren Schwimmbecken miteinander sprechen. Jeder Satz führte sein Echo mit sich, noch die trivialste Aussage erhielt einen diabolischen Unterton.

Nervig war auch, wie sich die Bilder an sich selbst berauschten, wie die Köpfe immer wieder im Profil vor schwarzem Hintergrund erschienen, zu Ikonen erstarrt.

Was aber sagten die drei, was wollten die zwei von ihnen wissen? Zahlen, Zahlen, nichts als Zahlen. Von den 75 waren 70 Minuten wirtschaftlichen Fragen gewidmet. Am Anfang bekräftigten alle ihren Abscheu vor der Gewalttat der beiden "verrohten Männer" (Westerwelle), die in München einen S-Bahn-Fahrgast zu Tode geprügelt hatten.

Die Forderung nach mehr Polizei bildete die einvernehmliche Antwort. Und dann begann auch schon die enervierende Hatz nach der größeren Zahl. Was als Spektakel angefangen hatte, entwickelte sich zum Streit über Mengenlehre.

Jürgen Trittin gab sich alle Mühe, das Image des bärbeißigen Ideologen zu überwinden. Er wollte prunken mit Sachkenntnis - und das meint in krisenhafter Zeit eben immer Zahlenkenntnis.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Oskar Lafontaine an Großbritannien toll fand - und wie Guido Westerwelle es mied, mit der Großfinanz in Verbindung gebracht zu werden.

Die Sache mit der Wunst

Die Grünen wollen das monatliche Arbeitslosengeld II von 351 auf 420 Euro erhöhen und einen Mindestlohn einführen. Beides zusammen kostet zehn Milliarden Euro, was durch den Verzicht auf "diesen Quatsch" namens Gesundheitsfonds zu erreichen wären.

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Frisch frisiert und gerüstet mit frischen Zahlen: Die Moderatoren Sigmund Gottlieb und Jörg Schönenborn mit ihren drei Polit-"Gladiatoren".

(Foto: Foto: dpa)

Außerdem sollen jene 800.000 Bürger, deren Privatvermögen über eine Million Euro beträgt und die so 23 Prozent des gesamten Privatmögens auf sich vereinigen, mit einer für den Bankenrettungsfonds zweckgebundenen Vermögensabgabe belangt werden.

Sehr, sehr viele Arbeitsplätze versprach Trittin außerdem: "Wenn man die Rate von neu instandgesetzten Gebäuden verdoppelt", entstünden 150.000 neue Arbeitsplätze im Mittelstand bei der zuliefernden und produzierenden Industrie; weitere 200.000 neue Jobs winkten, sobald die Abgaben für Geringverdiener reduziert seien und deshalb der Anreiz für Schwarzarbeit sinke; und 185.000 neue Stellen wären das Resultat, wenn jedes Kind einen Kindertagesplatz hätte, jeder Schüler eine Ganztagesbetreuung und 500.000 neue Studienplätze verwirklicht wären.

Die Kosten von 19 Milliarden Euro kämen durch die Hälfte des Solidaritätszuschlages locker in die Kassen.

Ob die Pläne mit den ostdeutschen Mitgliedern abgestimmt sind, ließ Trittin ebenso offen wie die Frage, ob es bei diesem Zahlenspiel nicht auch eine Pflicht für Eltern geben muss, alle Kinder bei der staatlichen Betreuung abzuliefern.

Die Zentriertheit auf den Staat überraschte nicht nur Westerwelle, der prinzipiell in "Kategorien des Mittelstandes" dachte. "Der Dampfer nach Jamaika wird nicht ablegen", sagte Trittin schließlich, während er ein Bündnis aus Union und Grünen nur aus arithmetischen Gründen ausschloss; beide zusammen blieben höchstwahrscheinlich unter 50 Prozent.

Frei nach Oscar Wilde

Auch Oskar Lafontaine, dessen Oberkörper in kreisenden Bewegungen von links nach rechts pendelte und wieder retour und der dabei beständig mit aufwärts gerichteter Nase gezeigt wurde, staunte über Trittins Zahlenfreude - und setzte flugs auf einen Schelmen anderthalbe.

Das Deutschland, das so ganz nach Lafontaines Geschmack wäre, müssen wir uns vorstellen als ein Soufflé, gemacht aus feinsten europäischen Zutaten, frei nach der Devise Oscar Wildes, "von allem nur das Beste".

Lafontaine pries den bestens ausgebauten öffentlichen Dienst in Dänemark, der, auf Deutschland übertragen, "fünf Millionen mehr Arbeitsplätze" bedeute: "Wir sagen, eine Million davon ist realisierbar."

Lafontaine begeisterte sich für den luxemburgischen Mindestlohn, der 9,60 Euro für ungelernte Arbeitskräfte betrage, und für die französische Variante von 8,82 Euro - der Einwand Westerwelles, in Frankreich liege die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 bis 25 Prozent, konterte er kühl: "Solche Schlussfolgerungen imponieren mir nicht."

Und Lafontaine empfahl den Import der britischen Vermögenssteuer. "Aufs Sozialprodukt gerechnet, hätten wir 90 Milliarden zusätzliche Einnahmen." Moderator Schönenborn aber gab den Spielverderber: "Großbritannien hat keine klassische Vermögenssteuer." Das verzieh ihm Lafontaine nicht.

Dreierlei Lehre

Später, als Schönenborn Lafontaines Berechnungen zur Rente mit jenen des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen konfrontierte, wurde der Spitzenkandidat barsch: "Mit Herrn Raffelhüschen dürfen Sie mir nicht kommen. Also Schluss!"

Westerwelle hielt sich beim Wettstreit der Zahlen zurück. Er schüttelte routiniert den Kopf, fand er doch weder bei Trittin noch bei Lafontaine das nötige Quantum "Leistungsgerechtigkeit". Der Mittelstand, den er wortreich auf den Schild seiner Bemühungen hob, klang durch und durch kleinbürgerlich und war doch als Gegenmodell gedacht zum Beamten- und Angestelltenheer, das Lafontaine "in unserem Volk" in Marsch setzen will.

Mittelstand bedeutet für Westerwelle "normale Arbeitnehmer" sowie "Handwerker, Selbständige, Freiberufler, kleine, kleinste Unternehmer, Händlerinnen und Händler". Mit der Großfinanz wollte der Chefliberale nun ebenso wenig in Verbindung gebracht werden wie mit den Aktiengesellschaften.

Der Dreikampf lehrt uns dreierlei: Im Schatten der Macht lässt es sich beherzter streiten als auf Regierungsbänken. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollten Wirtschaftsthemen kein Monopol haben - wo blieben die Fragen, wo die Antworten zu Integration, Bürgergesellschaft, Menschenbild?

Und schließlich sollte man den effektversessenen Fernsehmachern behutsam erklären, dass Kunst immer von Können kommt und nicht von Wollen.

Sonst hieße sie Wunst.

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