Westbalkan:Eine Insel, die Anschluss an Europa braucht

Lesezeit: 3 Min.

Die Flaggen der teilnehmenden Länder am letzten Westbalkan-Gipfel im Oktober im Kanzleramt in Berlin. (Foto: Michael Kappeler/picture alliance/dpa)

Der EU-Beitritt der sechs Westbalkan-Staaten – eine unendliche Geschichte? Beim Gipfel in Brüssel zeigt sich: Es geht voran, wenn auch sehr zäh.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Manchmal hilft es, die Welt von oben zu betrachten, um sie besser zu verstehen. So sieht man beispielsweise im Südosten Europas sechs kleine Länder, die umgeben sind von Staaten der Europäischen Union, ihr seltsamerweise aber nicht angehören: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – in Europa bekannt unter dem Begriff Westbalkan. „Eine Insel innerhalb der EU“, erkennt der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg und warnt: Diesen Fehler im System Europa müsse man schleunigst beheben – weil sich sonst Russland und China dieser europäischen Insel bemächtigten.

Ein „geostrategischer Lackmustest für die EU“ sei die Integration des Westbalkans, sagt Schallenberg. Was er meint: Wenn es der EU nicht bald gelingt, diese sechs Länder – allesamt offizielle Beitrittskandidaten – trotz ihrer Instabilität und schwierigen gegenseitigen Beziehungen aufzunehmen, dann wird die Union irgendwann zerfleddern. Österreich hat historisch betrachtet eine besondere Beziehung zum Balkan, auch deshalb sieht es Minister Schallenberg als seine Verpflichtung an, die Dinge voranzubringen.

Die Botschaft: Wir denken an euch, ihr gehört dazu

Auf seine Initiative hin gibt es seit 2023 in der EU die Gruppe „Friends of Western Balkans“. Ihr gehören auch Griechenland, Italien, Kroatien, die Slowakei, Slowenien und Tschechien an. Die Freunde des Westbalkans feierten einen ersten Erfolg, als die EU im Frühjahr 2024 auf ihren Druck hin formelle Beitrittsgespräche mit Bosnien-Herzegowina eröffnete. Sie drängen darauf, die Integration der sechs Staaten zur Priorität in der laufenden Legislaturperiode der EU bis 2029 zu machen und plädieren dabei für das von Schallenberg seit Jahren vertretene Prinzip der „graduellen Integration“: Schritt für Schritt für Schritt, um alle sechs bei Laune zu halten, auch wenn es mit dem vollständigen EU-Beitritt noch dauert.

Der österreichische Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten, Alexander Schallenberg, ist ein Freund der Westbalkan-Länder. (Foto: NICOLAS TUCAT/AFP)

Der Westbalkan-Gipfel an diesem Mittwoch in Brüssel zeigt: Es geht voran, wenn auch sehr zäh.

Es war ein vorwiegend symbolischer Akt, dass die sechs Staats- und Regierungschefs des Westbalkans zum Gespräch mit den 27 Kolleginnen und Kolleginnen der EU geladen waren. Die Botschaft: Wir denken an euch, ihr gehört dazu. Andererseits vermittelte ihnen die Veranstaltung auch: Wir haben wichtigere Sorgen. Als Stargast wurde in Brüssel der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij erwartet. Und die Lage in der Ukraine dürfte das große Thema beim regulären EU-Gipfel an diesem Donnerstag sein.

Manche fürchten, die EU könnte handlungsunfähig werden

Als Ergebnis des Westbalkan-Gipfels bleibt eine 18-seitige „Brüsseler Erklärung“, in der steht: „Die Zukunft des Westbalkans liegt in der Union“. Konkretisiert wird darin der bereits bekannte „Wachstumsplan“ der EU, der den Beitrittsprozess beschleunigen soll. Brüssel stellt sechs Milliarden Euro als Wirtschaftshilfe in Aussicht. Das Geld ist gekoppelt an Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft und auch daran, dass die sechs Staaten weiterhin helfen, Migranten von der Reise in die EU abzuhalten.

Seit dem Gipfel 2003 in Thessaloniki verfolgt die EU offiziell das Ziel, sich auf den Westbalkan auszudehnen. Für Erweiterungen gibt es allerdings ein vielstufiges, langwieriges Verhandlungsprozedere. Wer dem Klub beitritt, muss reif für den gemeinsamen Binnenmarkt sein und die rechtsstaatlichen Standards der EU erfüllen. Das zieht sich über Jahre.

Zudem gibt es die Bedenken, mit einer großen Erweiterung um den Westbalkan – und um die Ukraine – werde die EU handlungsunfähig. Deshalb müsse sich die EU erst einmal reformieren, zum Beispiel das Prinzip der Einstimmigkeit abschaffen.  Solche Reformen brauchen ebenfalls viel Zeit.

„Neurotisch“, „unfair“, „heuchlerisch“ – das langwierige EU-Prozedere verursacht Ärger

Die für Erweiterungsfragen zuständige Kommissarin Marta Kos aus Slowenien sagt dennoch, es gebe eine neue Dynamik in den Verhandlungen mit den Westbalkan-Regierungen. Bis zum Ende ihrer Amtszeit im Jahr 2029 könne mindestens ein Land ins Ziel kommen. Montenegro ist der Favorit, das Land erhält in den Fortschrittsberichten der EU die besten Kritiken. Für die anderen Länder geriete das Warten allerdings umso frustrierender.

Der albanische Ministerpräsident Edi Rama lässt immer wieder Anflüge von Sarkasmus erkennen, wenn es um die Beitrittsverhandlungen geht. Er nennt das Prozedere mal „neurotisch“, mal „unfair“, mal „heuchlerisch“ – zumal im Vergleich zur Ukraine, die nun bevorzugt werde. Der österreichische Minister Schallenberg kann Rama verstehen. Der langwierige Prozess, sagt er, koste die EU viel Glaubwürdigkeit.

Alexander Schallenberg, 55, beschäftigt sich seit fast 25 Jahren mit Europapolitik. Er begann als Diplomat in Brüssel und ist seit 2019 Außenminister, unterbrochen von einem zweimonatigen Intermezzo als Kanzler im Jahr 2021. Bundeskanzler Olaf Scholz weiß er an seiner Seite, wenn es um den Westbalkan geht, auch wenn der nicht die gleiche Leidenschaft für das Thema habe wie früher Angela Merkel.  Ob Schallenberg der neuen österreichischen Regierung angehören wird, ist unklar. Jedenfalls werden die Westbalkan-Staaten weiterhin Unterstützung aus Österreich benötigen. Dort verliert man nicht gleich die Geduld mit einem Land wie Serbien, das sich immer wieder Richtung Russland orientiert. Und dort versteht man auch die „transaktionale Natur des Balkans“, wie Schallenberg das nennt: Eine Hand wäscht die andere.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungHilfe für die Ukraine
:Die neuen Russland-Sanktionen der EU grenzen an Hohn

Kommentar von Jan Diesteldorf

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: