Mitten hinein in die ohnehin heikle Dynamik des Westbalkan-Gipfels platzte am Vorabend dann auch noch das Misstrauensvotum gegen die bulgarische Regierung. Eine knappe Mehrheit der Abgeordneten in Sofia stimmte für den Antrag der Oppositionspartei Gerb ("Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens"), der Regierung von Premier Kiril Petkow nach gerade einmal einem halben Jahr im Amt das Vertrauen zu entziehen.
Dem Premier fehlte etwa der Rückhalt von Abgeordneten einer populistischen Partei, die vor zwei Wochen aus seiner Regierungskoalition ausgeschieden war. Offiziell begründet war der Antrag mit einem "Scheitern der Regierung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik", der gestürzte Premier selbst machte korrupte Netzwerke im Land sowie eine massive Desinformationskampagne durch Russland verantwortlich.
Petkow, der als Reformer und Kämpfer gegen die Korruption angetreten war, getragen von einer breiten Protestbewegung, hatte sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine immer entschlossener gegen die Politik des Kremls gestellt und war dadurch unter anderem mit einem russischen Gaslieferstopp bestraft worden. Sein entschlossen prowestlicher Kurs hatte zuletzt innerhalb der Regierungskoalition die Spannungen verschärft, auch Staatspräsident Rumen Radew, ursprünglich ein Förderer Petkows, hatte sich zunehmend von ihm abgewandt.
Sollte Petkow kein stabiles neues Regierungsbündnis zusammenbekommen, könnte tatsächlich der Chef von Gerb, Ex-Premier Bojko Borissow, ein Comeback erleben. Der hatte sich am Vormittag vor dem Misstrauensvotum öffentlich als gesamteuropäischer Problemlöser empfohlen: Seine Partei, erklärte er, sei bereit, im Parlament für eine Aufhebung des bulgarischen Vetos gegen die Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Nachbarland Nordmazedonien zu stimmen.
Eben jenes Veto hatte Borissow in seiner früheren Amtszeit selbst verhängt - verbunden mit der Forderung, die ehemalige jugoslawische Teilrepublik müsse unter anderem zuerst einmal offiziell anerkennen, dass ihre Landessprache eigentlich nur ein Dialekt des Bulgarischen sei, und außerdem die bulgarische Besatzung während des Zweiten Weltkriegs in ihren offiziellen Schulbüchern nicht länger als faschistisch bezeichnen.
Der Eindruck, Europa wolle einen nicht, hat sich verfestigt
Nun ist das kleine Nordmazedonien schon seit Jahren zum Symbol dafür geworden, was im Verhältnis zwischen Westbalkan und EU so alles schiefläuft. Vor der bulgarischen Blockade stand ein langjähriger Streit mit dem südlichen EU-Nachbarn Griechenland, den das Land schließlich löste, indem es den eigenen Landesnamen von "Mazedonien" in "Nordmazedonien" änderte. Gegen die Umbenennung gab es massiven Widerstand im eigenen Land, doch der seinerzeit regierende Sozialdemokrat Zoran Zaev trieb seinen proeuropäischen Kurs unbeirrt voran - bis er im Oktober 2019 schließlich jäh durch ein Veto des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gebremst wurde.
Der stoppte, wohl auch aus Angst vor Populisten im eigenen Land, mit seinem Veto die EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien, den beiden Ländern, die auf ihrem Reformkurs Richtung Brüssel am weitesten fortgeschritten waren. Das Echo jener jähen Abfuhr hallt bis heute in der ganzen Region nach; der Eindruck, Europa wolle einen nicht, wie sehr auch immer man sich anstrenge, hat sich verfestigt. Und das Schwinden konkreter EU-Beitrittsperspektiven hat wiederum Politikern Auftrieb gegeben, die verstärkt auf andere Verbündete setzen - zum Beispiel Wladimir Putin.
In Serbien etwa ist Umfragen zufolge die Zustimmung in der Bevölkerung für einen möglichen EU-Beitritt auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Die Regierung von Präsident Aleksandar Vučić begründet auch damit ihre oft kritisierte "Schaukelpolitik" zwischen West und Ost; so hat Belgrad die Ukraine-Invasion zwar verurteilt, schließt sich aber nicht den europäischen Sanktionen gegen Moskau an. Und sie weiß im Gegenzug, dass sie sich auf die russische Unterstützung verlassen kann, wenn es darum geht, dem benachbarten Kosovo die Anerkennung als souveräner Staat zu verweigern - was wiederum aus EU-Sicht unbedingte Voraussetzung für den Beitrittsprozess wäre. Die Präsidentin Kosovos, Vjosa Osmani-Sadriu, fordert nun Brüssel auf, die seit Langem angedachte Visa-Liberalisierung für ihr Land wahr zu machen - und nur mit solchen Ländern Beitrittsverhandlungen zu führen, die auch die EU-Sanktionen gegen Russland unterstützen.
Kosovo ist bislang nicht einmal offizieller Beitrittskandidat, ebenso wie Bosnien-Herzegowina. Das Land gilt als potenzieller neuer Krisenherd, auch weil die Führung der bosnischen Serben immer wieder neue Sezessionsbestrebungen unternimmt, mit Rückendeckung aus Moskau. Es ist insofern kein Zufall, dass sich in jenen Staaten der Region, die bereits EU-Mitglieder sind, die Forderungen mehren, dem Land schnellstmöglich den Kandidatenstatus zu gewähren, auch um die dortigen proeuropäischen Kräfte zu stärken.
Sloweniens Premier Robert Golob etwa drängt darauf, "ein positives Signal an Bosnien-Herzegowina und an die gesamte Region des Westbalkans zu senden". Und Griechenlands Außenminister Nikos Dendias mahnt, wenn Brüssel den Annäherungsprozess nicht beschleunige, würden "rivalisierende" Kräfte verstärkt die Lücke füllen - und versuchen, "die Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkanstaaten zu untergraben". Dabei gehöre die Region zweifellos zu Europa: "geografisch, historisch und kulturell gesehen".