Süddeutsche Zeitung

Wert der Gewerkschaften:Die Arbeiterklassen

Im Tarifkonflikt der Metall- und Elektroindustrie wird es ernst. Dabei zeigen die Kundgebungen zum Tag der Arbeit: Besser als in Deutschland kann es den Beschäftigten dieser Branche kaum gehen. Ganz anders sieht es nämlich für die Arbeitnehmer zweiter Klasse in der Gesundheitsbranche und der Zeitarbeit aus - ganz zu schweigen von den Nachbarländern.

Detlef Esslinger

Die Arbeitgeber erklären, was sie wohl erklären müssen. Manche Warnstreiks stellen "eine Gefahr für Unternehmen und Arbeitsplätze dar", sagt der Chef des bayerischen Metallverbandes, "gravierende Schäden" malt auch sein Kollege aus Berlin an die Wand. Wie beruhigend.

Im Tarifkonflikt der Metall- und Elektroindustrie wird es allmählich ernst. Es ist ein Zufall, dass das Ende der Friedenspflicht mit dem Tag der Arbeit einherging, dem Tag, an dem Gewerkschaftsführer so viele Einsätze haben wie die Pfarrer am Ostersonntag. Weshalb dieser 1. Mai eine besonders gute Gelegenheit zum Vergleich bot: Wer sind eigentlich die Arbeiter erster Klasse, und wer muss mit der zweiten vorliebnehmen? Und wie sicher sind die Plätze in der ersten Klasse, wie groß die Aufstiegschancen in der zweiten?

Man muss nicht lange suchen, um festzustellen, wem es am besten geht: Viel besser als in der hiesigen Metall- und Elektroindustrie kann man es als gewöhnlicher Arbeitnehmer kaum treffen. Das Durchschnittsgehalt beträgt 48.000 Euro, und es gibt Arbeitszeitkonten, auf denen den Beschäftigten Mehrarbeit gutgeschrieben wird - mit der Konsequenz, dass sie in schlechten Zeiten davon zehren können und nicht entlassen werden müssen.

Zwar ruft die IG Metall zu Warnstreiks auf, aber es handelt sich um einen Konflikt, der recht ritualisiert abläuft. Man merkt das an den Formulierungen der Arbeitgeber. "Gefahr für Arbeitsplätze", "gravierende Schäden", das sind Warnungen aus dem Stehsatz. Anderswo wäre man froh, könnte man so entspannt darum rangeln, wie viel von einer Forderung nach 6,5 Prozent mehr Geld sich umsetzen lässt.

Zur zweiten Klasse gehören Arbeitnehmer in der Gesundheitsbranche, die weitaus schlechter bezahlt werden und besonders stark über Arbeitshektik klagen. Dazu gehören Leiharbeiter, die zum Teil die gleiche Arbeit verrichten wie ihre Kollegen von der Stammbelegschaft, jedoch weniger Geld bekommen. Dazu gehören die Beschäftigten in Branchen, in denen es entweder keine Tarifverträge gibt oder in denen Gewerkschaften so schwach sind, dass sie auch Tariflöhne unter 8,50 Euro akzeptieren müssen, jenem Betrag, den sie als gesetzlichen Mindestlohn fordern. Eigentlich schon dritte Klasse. Dazu gehören viele Menschen in den Krisenländern der EU. In Spanien zum Beispiel hat inzwischen jeder vierte Metaller seinen Job verloren.

Der Vergleich hat nicht den Zweck, der IG Metall Vorhaltungen zu machen, etwa nach dem Motto: Was will die eigentlich? Im Gegenteil, der Vergleich zeigt, dass es Volkswirtschaften dort gut geht, wo Gewerkschaften, die Verbände der Arbeitgeber und auch die Regierung einander auf Augenhöhe begegnen. Dieses Gleichgewicht der Kräfte ist keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für Erfolg. Die Metall- und Elektroindustrie ist die bedeutendste Branche hierzulande - weil die hohen Gehälter von hochqualifiziertem Personal bezogen werden, das die besten Maschinen der Welt produziert. In der Gesundheitsbranche und im Erziehungswesen hingegen bleiben deshalb so viele Stellen unbesetzt, weil Gehälter und Arbeitsbedingungen unattraktiv sind.

Es ist ein Wert an sich, wenn Gewerkschaften satisfaktionsfähige Partner sind. Es hat dies einen befriedenden Effekt auf Betriebe und Gesellschaft, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Wo Unternehmen den legitimen Wunsch nach mehr Flexibilität äußern, sind Gewerkschaften auch dazu da, gegenzuhalten - denn wenn Flexibilität vor allem bedeutet, via Leiharbeiter eine zweite Lohnlinie zu eröffnen, dann fallen eines Tages Hunderttausende von Arbeitern von der ersten in die zweite Klasse. Dann gesellen sie sich zu jenen, die bereits heute allenfalls Arbeit nach Vorschrift verrichten, wenn sie nicht schon längst der Ingrimm gepackt hat. Wie soll da Produktivität entstehen? Darin liegt die Bedeutung des Tarifkonflikts in der Metallindustrie, und auch der Grund, warum er relativ kompliziert ist: Die IG Metall verlangt nicht bloß mehr Geld, sondern auch Mitsprache bei der Leiharbeit: Beide Seiten haben noch keine Idee, wie sich die Bedürfnisse nach Flexibilität und nach Sicherheit miteinander vereinbaren lassen.

Satisfaktionsfähige Gewerkschaften sind durch nichts zu ersetzen, man sieht das erstens an der Mindestlohndebatte. Jetzt wollen CDU/CSU eine Art Mindestlohn in Branchen einführen, in denen Gewerkschaften schwach sind. Die von Merkel und Co. vorgeschlagene Methode, allen Ernstes: Losentscheid. Zweitens sieht man es, indem man einen Blick auf andere EU-Länder wirft: In Frankreich kümmern sich die dort traditionell mitgliederarmen Gewerkschaften weniger um Arbeitszeitkonten. Stattdessen fordern sie im Wahlkampf die Rückkehr zur Rente mit 60. Ein spanischer Gewerkschaftsführer bekam neulich durch Vermittlung von DGB-Chef Michael Sommer einen Termin bei der Kanzlerin. Zum Regierungschef seines eigenen Landes durfte er noch nie. Also bringen er und seine Kollegen sich anders ein. Sie veranstalten Generalstreiks. Auf in den Klassenkampf? Wer Gewerkschafter am liebsten ohnmächtig sieht, bewirkt nur, dass sie verantwortungslos werden.

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SZ vom 02.05.2012/wolf
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