Süddeutsche Zeitung

Werkstatt Demokratie:Zwischen Sehnsucht und Vorurteil

Lesezeit: 12 Min.

Europa als Konkurrenz oder Bedrohung? Als Partner? Vielleicht sogar als Vorbild? So blickt die Welt auf unseren Kontinent - SZ-Korrespondenten berichten.

Von SZ-Autoren

Europäer haben eine eigene Vorstellung von ihrem Kontinent - einig sind sie sich allerdings nicht unbedingt. Aber wie wird Europa von außen wahrgenommen? Als ein Block? Ein Flickenteppich? Als Bedrohung, Verbündeter oder sogar Vorbild? SZ-Korrespondenten berichten.

USA: Europa, Ort für ein besseres, gesünderes Leben

Europa muss sich aus den USA derzeit viel Kritik anhören - jedenfalls wenn die Regierung in Washington und insbesondere Präsident Donald Trump sich äußern. Europa zahle zu wenig für die Nato, lasse zu viele Flüchtlinge herein - und die europäischen Autos seinen ein Sicherheitsrisiko für die USA. Zwar hofiert Trump Autokraten wie Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Zu wichtigen Politikern wie Angela Merkel oder Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron findet er keinen Draht - obwohl gerade Letzterer wirklich alles versucht hat, gute Stimmung zu machen.

Aufgeklärte, liberale Amerikaner beobachten deshalb mit zunehmendem Grauen, wie Trump die alten Bande zu den wichtigsten Verbündeten der USA aufs Spiel setzt. Seine Basis hingegen findet wie Trump, die USA haben genug für Europa getan. Sollen die sehen, wo sie bleiben, America first.

Wo es nicht um Politik geht, ist die Einstellung der Bevölkerung Europa gegenüber eigentlich grundsätzlich eher positiv. Der Kontinent wird mit einer ganzen Reihe wichtiger positiver Eigenschaften gleichgesetzt: etwa mit Qualität, Lebensfreude, einer gewissen Freizügigkeit und viel, viel Urlaub. Für die Europäer. Viele Amerikaner kommen über zwei Wochen Jahresurlaub kaum hinaus.

Außerdem auf der Hitliste: halbwegs bezahlbare Krankenkassen für jeden. Und in den meisten Fällen kostenlose Bildung! Vom sozialen Netz und den Arbeitnehmerrechten ganz zu Schweigen. Vergangene Woche erst hat eine Nachbarin ihren Job in einem Architektenbüro verloren. Morgens kam sie nichtsahnend ins Büro. Zwei Stunden später stand sie mit einem Pappkarton in den Händen auf der Straße. Darin durfte sie gerade noch ihre wenigen privaten Besitztümer packen, die auf ihrem Schreibtisch standen.

Wer sich mit jungen Eltern unterhält, bekommt schon nach einem kurzen Gespräch über die Vor- und Nachteile des Lebens in den USA und in Europa diesen Satz zu hören: Ach, könnten wir doch nach Europa ziehen. Danach ein langer Seufzer. Und das sagen Menschen, denen seit Jahrzehnten eingetrichtert wird, die USA seien das großartigste Land der Erde.

Die USA - obwohl nach wie vor die mächtigste und reichste Wirtschaftsnation der Erde - haben in den vergangenen Jahren massive Umwälzungen erlebt. Die Reichen sind unendlich viel reicher geworden. Die Armen sind weiterhin arm. Nur werden es immer mehr. Und die Mittelschicht, nun ja, die verliert immer mehr an Bedeutung. Selbst ihren Vertretern fällt es inzwischen schwer, sich eine Krankenversicherung zu leisten, die all das abdeckt, was etwa die gesetzliche Krankenkasse in Deutschland bietet.

Gute Schulbildung für die Kinder wird schon ab Geburt zur finanziellen Herausforderung. Alles ist teuer. Schon ein Kindergartenplatz in New York kostet schnell 2000 Dollar. Im Monat. Die wenigen öffentlichen Kitas sind keine Orte, an denen verantwortungsvolle Eltern ihren Nachwuchs lassen möchten.

Das alles im Hinterkopf hat sich der Blick auf Europa verändert. Früher einmal war das nur eine schnucklige Ansammlung von Klein- bis Kleinststaaten, die von den USA vom Joch des Nationalsozialismus befreit wurden. Heute ist Europa ein Ort, an dem es sich aus Sicht vieler Amerikaner schlicht besser, sicherer, gesünder leben ließe als in den USA.

Von Thorsten Denkler, New York

Vor ein paar Jahren veröffentlichte eine amerikanische Zeitschrift die meist gesuchten Begriffe und Fragen chinesischer Internetnutzer rund um Europa. Da hieß es dann zum Beispiel: Warum hassen die Deutschen immer noch Hitler? Warum wird Italien nicht wie Japan und Deutschland für seine Rolle im Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht? Wenn Österreich deutschsprachig ist, warum schließt es sich Deutschland nicht an? Warum überfällt Spanien nicht Portugal und Italien den Vatikan?

Wer in China unterwegs ist, bekommt nicht wenige solcher Fragen direkt gestellt. Das Interesse an Europa ist hoch, die Neugier ehrlich. Das Wissen in der Bevölkerung allerdings ist nicht immer groß (wenn auch weit größer als bei Europäern über China!).

Die chinesische Regierung dagegen hat Europa in den vergangenen Jahrzehnten genau studiert. Die Mechanismen der Europäischen Union und ihre Schwächen? Peking kennt sie. Die Flitterwochen zwischen beiden Partnern nach Ende des Kalten Krieges sind aber nach Jahren der Annäherung vorbei, schreibt der chinesische Politologe Chen Zhimin. Das wachsende Handelsdefizit, unfaire Geschäftspraktiken, die Frage der Menschenrechte und das umstrittene chinesische Engagement in Afrika belasten das Verhältnis.

Europa war für viele Chinesen lange ein Sehnsuchtsort, das bessere China. Sichere Lebensmittel, vertrauenswürdige Produkte, gute Luft. Die aufsteigende Wirtschaftsmacht träumte davon, an mächtige Staaten wie Deutschland aufzuschließen. Die Finanz- und Schuldenkrise haben in China aber Zweifel an der Regierungsfähigkeit der europäischen Staaten geweckt. Während sie wankten, beschloss Peking ein Investitionspaket in Milliardenhöhe. Die boomende chinesische Konjunktur wurde zum Motor der Weltwirtschaft. Die globale Machtverteilung verschob sich in Richtung Asien. In einer Umfrage der staatlichen Global Times erklärten noch 2009 rund 20 Prozent der chinesischen Bevölkerung, Europa sei ein wichtiger Partner. Ein Jahr später waren es nur noch sieben Prozent.

Die Staatspresse schlachtete die Krisen hemmungslos für ihre Tiraden gegen die westlichen Demokratien aus. Das anscheinende Chaos machte es leicht, die Kommunistische Partei als handlungsfähigeren Akteur zu porträtieren. China sollte nicht mehr zum Westen aufschauen. Das chinesische Modell, die Einparteienherrschaft, sei eben doch überlegen, jubiliert die Presse seitdem. Nicht wenige Chinesen reisen nicht mehr nach Europa. Sie glauben durch die Berichte über die Flüchtlingskrise, dass es dort zu unsicher geworden sei. Viele halten es zudem für naiv, Flüchtenden zu helfen, vor allem Muslimen.

Ist die Faszination der Chinesen für Europa also vorbei? Das eher nicht. Wenn man heute Europa in eine chinesische Suchmaschine eintippt, vervollständigt sie das Wort immer noch zu der Frage: "Wie komme ich an ein Schengen-Visum?" Sicher ist aber, dass der Blick auf den alten Kontinent nüchterner geworden ist.

Von Lea Deuber, Peking

Moskau präsentiert sich seit zehn Jahren deutlich urbaner und auch "europäischer" als zuvor, als das Stadtbild stärker von der sozialistischen Stadtplanung vergangener Tage geprägt war. Da wirken die "Chruschtschowkas" aus den Sechzigerjahren inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Diese nach dem früheren Sowjetführer Nikita Chruschtschow benannten Plattenbauten sind wegen ihrer Monotonie, die ganze Straßenzüge prägen, und wegen ihres geringen Wohnkomforts berüchtigt.

"Euro-Remont" lautet dagegen das Zauberwort, das in Moskau Menschen wie Darja Tarassowa seit einigen Jahren lockt, die hier ausziehen wollen. Es bezeichnet Wohnungen, die dem westeuropäischen Standard entsprechen sollen.

Tarassowa hat 15 Jahre in einem der alten Blöcke gewohnt. Ihr neues Apartment liegt nun in einem Wohnkomplex, der erst im Jahr 2015 errichtet worden ist und deutlich moderner, freundlicher und tatsächlich auch europäischer wirkt. Stolz führte Tarassowa die neue Behausung einem deutschen Bekannten vor - noch vor dem Umzug. Dieser, ein Banker und öfters geschäftlich in Moskau, staunte allerdings nicht schlecht, als er die Wohnung betrat. Ein Rohbau.

Für Russland ist das normal. Die neuen Eigentümer müssen alle Montagearbeiten selbst veranlassen. Gerade die lapidare Erklärung der 43-Jährigen dazu verrät viel darüber, was die Russen über die EU denken - als deren ersten Repräsentanten sie Deutschland betrachten. "Wir sind hier eben nicht in Deutschland", sagt sie.

Kurz und knapp bringt sie zum Ausdruck, was hier jeder Russe über Westeuropa zu denken scheint: Nicht nur, dass Wohnungen schlüsselfertig übergeben werden, und dass die Menschen in großem Komfort leben. Sondern dass dort überhaupt alles viel besser organisiert ist als in Russland. Das alles funktioniert. Und zwar auch auf höherer Ebene: demokratische Spielregeln würden eingehalten und - am Allerwichtigsten - die EU soll weitgehend vom Übel der Korruption befreit sein. Die belastet dagegen die Russen in ihrem Alltag tatsächlich sehr, in dem ohne Schmiergeld oftmals überhaupt nichts geht.

In ihrer Bewunderung für die Westeuropäer übertreiben die Russen allerdings. Sie übersehen, dass auch diese nicht vor Korruption und Unterschlagung gefeit sind, wie etwa Fälle wie Siemens und Ghosn (Nissan/Renault) belegen, und dass der Lobbyismus in westeuropäischen Parlamenten auch eine Bedrohung der Demokratie darstellt.

So übt die EU eine große Anziehungskraft auf viele Russen aus. Zugleich ist unter ihnen jedoch auch das Gefühl weit verbreitet, von den Westeuropäern unfair behandelt und zu Unrecht an den Rand der europäischen Völkerfamilie gedrängt worden zu sein.

Das Narrativ des Kremls, dass Russland von Feinden umzingelt sei, verfängt sogar bei aufgeklärten Russen. Die pensionierte Lehrerin Wiktoria Nowikowa etwa, die als begeisterte Tänzerin regelmäßig den Wiener Opernball besucht, erklärt mit viel historischem Sachverstand, warum die russische Annexion der Krim aus ihrer Sicht berechtigt ist. Gleichzeitig bedauert sie den Konflikt, der dadurch mit der Ukraine und Westeuropa entstanden ist. Nicht nur fühlt sie sich durch das militärische Kräftemessen zwischen dem Westen und Russland bedroht. Sie fürchtet auch, dass sich Russland in Europa dadurch noch stärker isoliert.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Das kleine Land Costa Rica hat in Lateinamerika einen Spitznamen, der viel über die gesamte Region verrät. "La Suiza pequeña" wird es genannt, zu Deutsch: "Die kleine Schweiz". Das ist weniger eine Anspielung auf die mitunter bergige Landschaft und die Kühe, die auch in dem mittelamerikanischen Land zu finden sind. Sie zielt vielmehr darauf ab, dass in Costa Rica die Dinge anders, und man darf auch sagen: besser laufen als in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern.

Seit den 1950er Jahren ist Costa Rica eine stabile Demokratie, das Wohlstandsniveau ist vergleichsweise hoch, die Kriminalitätsraten umso niedriger. In Costa Rica gab es seit dieser Zeit keine sozialen Unruhen, keine Bürgerkriege und keine Militärdiktaturen wie in so vielen anderen Ländern. 1948 hat das Land sogar seine Armee abgeschafft - was es sich leisten konnte, da es von den USA protegiert wird.

Ähnliche Verhältnisse wie in der Schweiz sind nun auch in zahlreichen weiteren mittel- und westeuropäischen Staaten zu finden - somit erzählt Costa Ricas Spitzname auch etwas darüber, wie Europa insgesamt von vielen Lateinamerikanern gesehen wird. Es steht für Frieden, Wohlstand, Demokratie, die Abwesenheit von Korruption - aber auch für alltägliche Annehmlichkeiten wie etwa, dass Busse und Bahnen in der Regel pünktlich kommen.

In diesem Sinne ist die Europäische Union ein Sehnsuchtsort, und manche belassen es nicht bei der Sehnsucht, sondern machen sich auf dorthin. In Spanien etwa leben mindestens eine Viertelmillion Venezolaner, die meisten von ihnen sind in den vergangenen Jahren gekommen, als ihr Herkunftsland in eine heftige Staatskrise schlitterte.

In Lateinamerika gibt es aber noch ein anderes Narrativ von Europa, dessen Ursprünge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, das aber durchaus auch heute noch aktuell ist. Demnach ist Europa die Heimat der "Conquistadores", also vor allem der Spanier und Portugiesen, die den Kontinent einst unter sich aufteilten.

Auch heute noch steht die EU bei manchem im Verdacht, eine Art wirtschaftlichen Imperialismus zu betreiben und ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen - das propagieren zumindest weit links stehende Regierungen wie etwa Kuba und Venezuela.

Von Benedikt Peters, Bogotá

Natürlich hat hier jeder eine Meinung zu Europa, meist ist sie besser als die, die Europäer selbst über ihren Kontinent oder über die Europäische Union haben. Da sind die, die glauben, dass in Europa das Gold auf der Straße liegt, so ungefähr zumindest. Leute wie Massamba Fall aus dem Norden Senegals.

In ihrem kleinen Dorf saßen sie über viele Jahre unter dem großen Baum und haben sich ihr Bild von Europa gemacht, anhand von Videos aus dem Internet. Dass sie in Wahrheit brasilianische Soap-Operas schauten, wussten sie nicht, oder wollten es nicht wissen. Sie wollten nach Europa, sie wollten Abenteuer, ein eigenes Auto und das Ansehen derer, die daheim geblieben sind.

"Barca wala Barsakkh", sagten sie sich immer wieder, "Barca oder Tod", und manche machten sich tatsächlich auf den Weg über das Meer nach Spanien. Manche kamen dabei ums Leben, manche schafften es, manche kamen nach einigen Jahren wieder zurück, weil es in Europa höchstens ein paar Hilfsjobs gegeben hatte für sie. Mehr aber nicht. So war es auch bei Massamba Fall.

Diese kleine Geschichte aus dem Senegal entspricht zwar ziemlich genau dem Bild, das viele in Europa von Afrika haben - von mehr als einer Milliarde Menschen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als arm zu sein und an Europa zu denken.

Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Zwar belegen Studien immer wieder, dass sehr viele Menschen nach Europa wollen. Ihre Antworten sind aber eher so zu verstehen, als würde man einen Europäer fragen, ob er etwas gegen einen Lottogewinn hätte. Als solcher gilt Europa den meisten Afrikanern - und die Aussicht, dorthin zu kommen, erscheint ihnen entsprechend unrealistisch.

In der Realität orientiert sich die Mehrheit nicht nach Norden: Aus vielen Ländern gibt es fast keine Migration, weil die Menschen einfach zufrieden sind oder zumindest lieber daheim als in der Fremde. Europa steht für sie nur als eine Region mit guten Fußball-Ligen, und nicht viel mehr. Wer aber unzufrieden ist, sucht eher in anderen afrikanischen Ländern nach Arbeit. Viele zehn Millionen haben in Südafrika Jobs gefunden, in Ghana oder der Elfenbeinküste.

Etwas, das aus Sicht vieler Afrikaner, auch der jungen Leute, gegen die Reise nach Europa spricht: Sie haben natürlich mitbekommen, dass die Europäer sie nicht unbedingt mögen. "Gibt es wirklich so viel Rassismus", werden weiße Europäer in Afrika nicht selten neugierig von Jugendlichen gefragt. Oft klingt es etwas enttäuscht.

Von Bernd Dörries, Kapstadt

Auf der offiziellen Ebene sind die Beziehungen zwischen Israelis und Europäern angespannt. Denn die Einzigen, die immer wieder auf die Zwei-Staaten-Lösung und die Situation der Palästinenser im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen zu sprechen kommen, sind eben die Europäer.

Auch Menschenrechtsorganisationen in Israel und den palästinensischen Gebieten werden mit EU-Geld unterstützt, was die Regierung Netanjahu regelmäßig anprangert. Sie wirft auch der EU-Kommission und einzelnen Staaten vor, Organisationen zu unterstützen, die zum Boykott Israels aufrufen.

Herzlich willkommen heißt Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nur einzelne Politiker, die seiner rechtsnationalen Regierung in ihrer Haltung nahestehen: dazu gehören Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und Österreichs Kanzler Sebastian Kurz. Beide haben bei ihren Besuchen in Israel mit der bisherigen Tradition von EU-Politikern, auch den palästinensischen Gebieten einen Besuch abzustatten, gebrochen. Ohnehin ist Netanjahu dazu übergegangen, die Kritik aus Europa zu ignorieren.

Israels wahrer politischer Freund aber sitzt in Washington: In Donald Trump sieht Netanjahu einen Partner, der - anders als Trumps Vorgänger Barack Obama - seine Wünsche erfüllt: Die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, die Streichung von Geld für die Palästinenser und die Aufkündigung des Atomvertrags mit Iran.

Zwischen den Bürgern Israels und Europa bestehen dagegen enge Verbindungen: Viele haben ihre Wurzeln hier, es gibt noch rund 200 000 Überlebende des Holocaust in Israel. Sie verfolgen die Entwicklungen in Europa mit Interesse, manches - wie antisemitische Vorfälle - auch mit Sorge. Die Vorgänge rund um den Brexit oder gar die Europawahl findet in den israelischen Medien allerdings kaum Beachtung.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Vor fast 60 Jahren reisten viele Türken erstmals nach Deutschland, zum Arbeiten - Deutschland brauchte Arbeitskräfte, und viele Türken versuchten der Armut in ihrer Heimat zu entkommen. Zweieinhalb Generationen später ist Deutschland für viele Türken immer noch ein Sehnsuchtsland, aber die Wünsche haben sich gewandelt: Die Türkei ist inzwischen selbst ein Industriestandort; wenn Türken von Deutschland träumen, dann, weil dort Enkel und Urenkel leben.

Aber auf ein Besuchervisum müssen sie vor den Konsulaten oft lange warten, eine nicht selten unwürdige Prozedur. Auch dies trägt dazu bei, dass in den vergangenen Jahren das Misstrauen gewachsen ist, und sich viele Türken von Deutschland - das für sie generell für Europa steht - nicht wirklich willkommen geheißen fühlen. Außerdem: Die Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, 2005 begonnen, sind schon lange blockiert, woran beide Seiten ihren Anteil haben.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzt das Unbehagen, er schweißt seine Anhänger auch mit einer antiwestlichen Rhetorik zusammen. Dabei erscheint die Türkei häufig als Opfer dunkler Verschwörungen des Westens, der USA und der EU. Gleichzeitig vermittelt Erdoğan Stolz auf das in der Türkei wirtschaftlich Erreichte und er polarisiert die türkische Gesellschaft.

So glauben immer weniger Türken daran, dass die Türkei einst Teil der EU werden könnte. Laut einer Umfrage von Anfang September 2018 waren das nur noch 31,7 Prozent. Aber eine Mehrheit der Menschen in der Türkei wünscht sich ebenfalls laut Umfragen weiterhin genau das für die Zukunft, irgendwann. Deshalb hat auch Erdoğan das Ziel offiziell nicht aufgegeben, auch wenn es gegenwärtig so unrealistisch erscheint - angesichts des Zustands von Demokratie und Justiz, der in den Berichten der EU über die Türkei immer wieder beklagt wird.

Auch die Opposition in der Türkei dringt darauf, die Bindungen an die EU nicht zu kappen, sie fürchtet andernfalls eine weitere Isolierung ihres Landes. Und seit viele Akademiker und Journalisten in den Gefängnissen landen und die politische Unsicherheit wächst, sind Deutschland und Europa auch wieder als Zuflucht begehrt.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Europa hat es besser: keine großen kulturellen Unterschiede, keine feindlichen Nachbarn, gute Politiker, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel. Da ist es kein Wunder, dass die Länder Europas so demokratisch sein können, wie sie sind - mit der EU sogar über nationale Landesgrenzen hinaus. Solche Urteile über Europa hört man in Japan öfters.

Dabei schwingt stets der Vergleich mit: Japan sieht sich mit dem Einparteienstaat China konfrontiert - mit dem es wirtschaftlich allerdings enger verflochten ist als die meisten EU-Staaten untereinander; mit Südkorea, mit dem es über die Geschichte streitet; mit Nordkorea, demgegenüber es besonders hart sein will. Und mit Russland, mit dem es sich, wie mit den anderen Nachbarn, seit Jahrzehnten in einem Konflikt um kleine Inseln verhakt hat.

Nippons Vorurteile lassen sich auch mit Japans Medien erklären. Sie berichten nur spärlich über die Politik in Europa, es sei denn, es gibt einen Japan-Bezug. Oder eine Krise. Europa ist eigentlich Japans zweite Wahl. Aber als US-Präsident Donald Trump die TPP, den Freihandelspakt um den Pazifik, platzen ließ, hatte es Tokio plötzlich eilig, mit der EU den Freihandel zu vereinbaren.

Hält man dem Vorurteil vom homogenen Europa entgegen, die Unterschiede zwischen städtischen Finnen und griechischen Olivenbauern seien vielleicht größer als zwischen Menschen in Südkorea und Nippon, dann entgegnen Japaner zum Beispiel, aber alle Europäer seien doch Christen. Und alle können Englisch. Dabei wird freilich bald klar: Es geht ihnen nicht um Europa, sondern um ihr Selbstbild. Für jedes japanische Defizit muss eine scheinbar rationale Erklärung her.

Ichiro Hatoyama, Japans Premier von 1954 bis 1956, träumte damals von einer überstaatlichen Gemeinschaft in Ostasien. Der EU-Vorläufer EWG, die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft", war in jenen Jahren noch ein Projekt. Das ist Hatoyamas (fast vergessene) Utopie noch immer nicht.

Wenn der gegenwärtige Premier Shinzo Abe durch die Welt reist, dann beschwört er die Wertegemeinschaft mit den Ländern, die er besucht. Im Westen glaubt man, er meine die Demokratie. Allerdings beschwor er auch im nominell kommunistischen Vietnam die gemeinsamen Werte. Und meinte damit einen Antagonismus gegen China.

Wenn die Staatsstrukturen, freie Wahlen und ihre korrekte Durchführung ein Maß für Demokratie sind, dann ist Japan eine Muster-Demokratie. Wenn zur Demokratie auch eine lebendige Opposition gehören, eine klare Gewaltentrennung, der Rechtsstaat, die Pressefreiheit und die (politische) Gleichberechtigung, dann muss Japan wieder nach Erklärungen suchen: Europa hat es halt einfach besser.

Von Christoph Neidhart, Tokio

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