Leserbriefe zur Werkstatt Demokratie:Muss das "Haus Europa" Heimat oder abgerissen werden?

Leserbriefe zur Werkstatt Demokratie: Muss das "Haus Europa" ganz neu gebaut werden? Oder sollte nur die bereits vorhandene europäische Identität besser in Symbole gefasst werden?

Muss das "Haus Europa" ganz neu gebaut werden? Oder sollte nur die bereits vorhandene europäische Identität besser in Symbole gefasst werden?

(Foto: Niklas Hamann/Unsplash; Illustration Jessy Asmus)

Im Rahmen des SZ-Formats "Pingpong der Positionen" konnten Leser auf den Leitartikel zu Europa und Heimat antworten - hier eine Auswahl.

Im SZ-Format "Pingpong der Positionen" haben Leserinnen und Leser die Möglichkeit zu einem Meinungsbeitrag in der Süddeutschen Zeitung eine Gegenrede zu verfassen. Diesmal war es ein Leitartikel von Meinungsressortchef Stefan Ulrich, ein Plädoyer dafür, dass Europa zur Heimat für seine Bewohner werden müsse. Das Pingpong, also den wechselseitigen Austausch der Argumente haben wir hier veröffentlicht. Unten lesen Sie einige weitere ausgewählte Meinungsbeiträge von Leserinnen und Lesern, die wir zum Leitartikel erhalten haben.

Europa muss seine schon vorhandene Identität in Symbole fassen

"(...) Genausowenig, wie man sich in einen Gemeinsamen Markt verlieben kann, ist wohl ein National­staat als Ganzes eine Heimat. (...) Fragen Sie einen Schotten, Basken, Korsen, Bayer oder Sizilianer - kaum einer von ihnen wird seinen jeweiligen Nationalstaat als Heimat beschreiben. Heimat und Identität sind etwas Grundverschiedenes. Sie können sich teilweise überdecken und einander bedingen, aber Identität greift weit über Heimat hinaus.

Ich denke, dass jeder eine Heimat hat, die aber für jeden etwas ganz anderes bedeuten kann. Mei­ne besteht aus einem kleinen Teil von Oberbayern, das Vierseenland bis zum Herzogstand, mit der Erinnerung an das Septemberlicht, in dem Andechs strahlt, und vor allem aus der Sprache, die ich leicht überall mitnehmen und wiedererkennen kann. (...)

Dieser Artikel gehört zur Werkstatt Demokratie, ein Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung. Alle Beiträge der Themenwoche "Heimat Europa" finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Seit Langem lebe ich nun in Frankreich, das inzwischen so etwas wie eine zweite Heimat gewor­den ist, aber doch etwas ganz anderes. Freilich nicht das ganze Land, sondern eher seine Lebens­weise und Denkart, natürlich auch die Sprache, und, wenn man es unbedingt geographisch be­schreiben will, das westliche Loiretal, in dessen sanftem Klima ganz besondere Äpfel und Kirschen gedeihen. Drei wichtige Schalen meiner Identität, und es gibt sicher noch andere. (...)

Echte Verfassung, länderübergreifende Parteien, EU-Pass

Alle diese Schalen passen ineinander, ohne sich gegenseitig zu behindern, weil ich mich als Euro­päer sehe. Für mich ist das die einschließende Identität (...). Je länger ich lebe und darüber nachdenke, desto unmittelbarer bin ich mir bewusst, Teil des europäischen Kontinuums zu sein, das gemeinsame Wurzeln hat, aus denen durch die Jahrhunderte Äste und Zweige gewachsen sind, die sich letztlich nur sehr wenig voneinander unterscheiden. Es ist ein gemeinsamer Kanon - Kunst, Recht, Geschichte und anderes -, der uns alle zu Europäern macht. (...) Es geht im Grunde nur um die Anzahl und Reihenfolge der Schalen, die der Einzelne in seiner ganz persönlichen Zwiebel hat.

Deshalb denke ich nicht, dass sich "Europa" als zweite oder dritte "Heimat" anbieten müsste. Seine Aufgabe wäre es, seine schon vorhandene Identität in Symbole zu fassen, die für alle verständlich und leicht erkennbar sind. (...) Eine Verfassung, die den Namen verdient (...). Gemeinsame Wahlen wären ein weiteres Symbol in diesem Sinne. Unter gemeinsam verstehe ich (...), dass ich, wenn ich will, als Deutscher in Spanien eine lettische Abgeordnete wählen kann; kurz: länderübergreifende Parteien und Wahllisten. Dass das so zu wählende Parlament eine zweite Kammer bräuchte und mit der Gesetzesinitiative ausgestattet werden müsste, sei nur am Rande erwähnt.

Ein weiteres, starkes Symbol wäre in meinen Augen ein gemeinsamer Pass, blau mit zwölf Sternen drauf. Wer will, kann ja im Inneren vermerken lassen, dass er in Belgien oder Bulgarien geboren ist. Das Wichtige wäre aber, dass sich alle Inhaber dieser Pässe als Mitglieder der gleichen Gemeinschaft ausgewiesen und anerkannt sähen. (...) So könnte und sollte man der europäischen Identität Leben einflößen und ein Angesicht geben - ganz bewusst und gezielt unter Einschluss dessen, was ein jeder als seine Heimat mitbringt."

Axel Werner

Dieses Haus ist fehlerhaft konstruiert

"Stefan Ulrich schreibt, 'das Europa der Regionen und das Subsidiaritätsprinzip [...] beweisen, dass die EU die gewachsene Identität ihrer Bürger achtet'. Wunderbar, wenn es so wäre. Schön wäre es auch, wenn Europa 'Klimaschutz und Artenvielfalt, Hilfe für Arme und Arbeitslose, Begrenzung der Allmacht globaler Konzerne' bedeutete. Aber all das ist das real existierende Europa nicht. (...) Im Gegenteil: Die gemeinsame EU-Agrarpolitik fördert den Artenschwund, ruiniert kleinbäuerliche Strukturen innerhalb und außerhalb Europas. Das Einstimmigkeitsprinzip in der Steuerpolitik führt dazu, dass Konzerne und reiche Bürger sich ihrer Steuerpflicht entziehen können.

Warum ist das so? Es ist nicht das Versagen einzelner Akteure in der Europa-Politik. Europa-Freunde gebrauchen gern das Bild vom 'Haus Europa'. Dieses Haus ist fehlerhaft konstruiert. Und die Konstruktionsmängel sind so gravierend, dass meines Ermessens nur noch eines hilft: abreißen und neu bauen.

Im Klartext: Alle, denen an einer guten Zukunft Europas liegt, sollten sich für einen Verfassungskonvent stark machen, der nach demokratischen Prinzipien zusammengesetzt ist. Eine wirklich demokratische europäische Verfassung würde mit dem Prinzip der Gewaltenteilung ernst machen und sich auf Bereiche beschränken, mit denen der einzelne Staat bzw. die einzelne Region überfordert wären.

Selbstverständlich müsste eine solche Verfassung in den einzelnen Ländern dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Tricksereien, wie sie bei den europäischen Verträgen und bei der deutschen Wiedervereinigung gemacht wurden, dürfte es nicht geben. Natürlich ist das alles utopisch. Aber was ist die Alternative? Mit der derzeitigen Flickschusterei jedenfalls wird Europa niemals für seine Bürger zur zweiten Heimat werden."

Wilfried Rahe

Mitgefühl auf alle Länder und Menschen ausweiten

"Ich bin im Februar durch Mexiko gereist und wurde natürlich dauernd gefragt, woher ich komme. Ich habe, zu meinem eigenen Erstaunen, geantwortet: "Europa, Alemania." Als einigermaßen versierte Reisende ist mir das in dieser Reihenfolge noch nie passiert. Vielleicht, weil Europa so bedroht ist? Vielleicht, weil angesichts der Größe von Mexiko Deutschland so klein erscheint? Vielleicht, weil ich in den Ländern Europas überall ein gemeinsames kulturelles Erbe entdecke? Und, bei allen Unterschieden und Fremdheiten, mich ein Stück weit "zuhause, heimisch" fühle?

Allerdings ergeht mir das in Ländern, deren Sprache ich beherrsche, wie z.B. das Spanische oder das Englische, auch so. Eine gemeinsame Sprache, Möglichkeit zur Kommunikation, verbindet. Sehr fremd war mir China, sowohl von der Sprache her wie von seiner Interpretation konfuzianischer Philosophie, die im Alltag für mich erzieherisch und kontrollierend wirkte. Und auch faszinierend, denn wie sollen sonst auf engstem Raum so viele Menschen in den Megastädten zusammenleben?

Letztlich geht es nicht nur um die individuelle, lokale und europäische Heimat, es geht darum, parallel dazu seinen Bewusstseins- und Mitgefühlsmuskel auf alle Länder und Menschen dieser Welt auszuweiten. Der kann trainiert werden, der Buddhismus liefert methodische Vorlagen. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind globale. Heimatgefühle, die mit Verantwortung und Verbundenheit mit den Menschen, den Pflanzen, den Tieren, den Meeren und Wäldern weltweit einhergehen, sichern das Überleben der Art(en) auf unserem Planeten."

Antonia von Fürstenberg

Bewährtes und Neues zu einer neuen Heimat entwickeln

"Heimat, das ist für viele Menschen hauptsächlich das soziale Umfeld und die daraus entstehenden Gemeinsamkeiten. Hier fühlt man sich verstanden und angenommen. Hier werden gemeinsame Lösungen für alle Probleme gesucht und umgesetzt. Doch alles das wird von den Politikern mit Füßen getreten, indem Gemeinsamkeitsgefühle als rückständig abqualifiziert werden.

In jeder Gemeinschaft wurde bisher die Anpassung an Bewährtes als oberstes Gebot eingefordert, ob im Verein oder im Betrieb. Aber bei der Migration wird genau das Gegenteil gefordert. Ohne jegliche Vorgaben müssen kulturelle Unterschiede der Migranten akzeptiert werden. Es werden auch keine Vorgaben bei den Leistungs- bzw. Lösungsanforderungen definiert. Dazu gibt es nur eine Blackbox, die Misstrauen generiert. Ein europäisches oder weltweites Heimatgefühl ist nur dann möglich, wenn alle Menschen bereit sind, dieselben Ziele zu verfolgen. Aber das ist nicht realistisch.

Solange die enormen Unterschiede im Kulturellen und in der sozialen Entwicklungsstufe bestehen, wird es nicht möglich sein, die Erwartungen auf eine internationale Heimat erfüllen zu können. Es ist deshalb unerlässlich, zuerst die Basis für viele Gemeinsamkeiten zu schaffen, und das auf der Basis einer gerechten und sozialen Politik für alle Bürger, die sich für ihre Heimat einsetzen. Dann spielen Hautfarbe oder Herkunft keine Rolle.

Aber es darf nicht die Heimat verbal und real zerstört werden, ohne den Bürgern eine intakte Alternative anzubieten. Das ist zutiefst unsozial und konzeptlos. Doch genau diesen Weg gehen unsere Politiker in Europa und speziell auch in Deutschland. Es ist deshalb nur logisch, dass sich dagegen immer mehr Bürger wehren - auf die einzige Art, die ihnen möglich ist: durch Protestwahl. Das ist weder rechtsradikal noch populistisch oder rückständig. Die etablierten Parteien sind nicht mehr wählbar, da sie ihre Hausaufgaben nicht machen.

Das ist das eigentliche Problem und nicht die angebliche Fehlentwicklung in den Köpfen der Bürger. Da nützt es auch nichts, dass Politiker und die Medien einen Umerziehungsauftrag für sich reklamieren und die Bürgerschelte als tägliches Brot serviert wird. Denn zuerst muss Bewährtes und Neues durch harmonische Anpassung zu einer neuen Heimat entwickelt werden; dann gäbe es auch keine Notwendigkeit, die mangelnde Bereitschaft für eine internationale Heimat anzumahnen."

Herbert Scheuerer

Der "intellektuelle Westen" als Heimat

"Sehr geehrte Damen und Herren, als ich einmal mit Google Maps spielte, versuchte ich immer näher an den Ort, an die Stelle heran zu zoomen, die ich mit mir selbst in möglichst vollkommener Weise verbinde. Das deprimierte mich mit der Zeit: Ich fand sie nicht.

Bald darauf machte ich mit meiner Frau und ein paar Freunden Urlaub in den Niederlanden. Meine Frau spazierte ein paar Stündchen über die Dünen, die Freunde waren im Ferienhaus und ich saß in einem Café mit einem Cappuccino, einem Croissant, einem Buch und einer Zeitung. Das war mir das reine Glück. Hier war ich zuhause, daheim. Ich dachte daran, dass ich mir dieses Arrangement schon an vielen Orten, in denen es eine solche Art "Literaturcafé" gibt, eingerichtet habe, in meinem heimatlichen Bamberg, in Wien, Paris, London, ja sogar in Georgetown, Washington D.C. Es ist "der intellektuelle Westen", den ich als meine Heimat empfinde.

In Zoutelande in den Niederlanden las ich damals das herrliche Buch "Das Café der Existenzialisten" von Sarah Bakewell (London) und den SZ-Artikel "Literatur als Zuflucht" von Alex Rühle über Romain Gary. Ich fühlte mich wie an einem südfranzösischen Strand. Einer der Romane Garys wurde jüngst verfilmt, was mich dazu brachte, in Bamberg einen "Literarischen Salon" mit Texten von Klaus Mann und Albert Camus zu veranstalten. Garys erster Roman, der in Russland spielt, hieß: "Éducation européenne", Europäische Erziehung. Alles meine Zuflucht, meine Heimat."

Andreas Reuß

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion. Wir behalten uns vor, die Texte zu kürzen. Bei der Veröffentlichung werden Vor- und Nachname benannt.

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