Süddeutsche Zeitung

Internationale Beziehungen:Warum die Welt so unberechenbar wird

Twitternde Präsidenten, wankelmütige Wähler, bröckelnde Institutionen: Klaus Goetz erforscht die zunehmenden Turbulenzen in der Politik.

Interview von Thomas Kirchner

Ein Tweet Donald Trumps kann die Welt verändern. Zeitpunkt und Inhalt sind kaum vorauszusehen. Der US-Präsident handelt nach Laune. Andere populistische Politiker machen es ihm nach. Sprunghafter, überraschender ist auch das Verhalten der Wähler geworden. Deutet sich eine grundlegende Veränderung an? In der Politik sei jedenfalls immer mehr "Turbulenz" zu beobachten, meint der Münchner Politologe Klaus Goetz, der dem Phänomen auf den Grund gehen will.

SZ: Sie forschen über Turbulenz in der Politik. Was ist damit gemeint? Turbulent ging es doch oft zu in der Geschichte.

Klaus Goetz: Es gibt Phasen mit mehr Irregularität und größeren Ausschlägen, wenn Ordnungen zerfallen oder infrage gestellt werden. Das sind klassische Umbruchzeiten - und es spricht viel dafür, dass wir uns in einer solchen befinden. Ende der achtziger Jahre hatten wir das in Osteuropa, nun sehen wir auch im Westen Erosionsprozesse, die zu höherer Turbulenz führen.

Wie definieren Sie Turbulenz, ist das ein neuer Begriff?

Er kommt aus der Naturwissenschaft, hält aber zunehmend in den Sozialwissenschaften Einzug. Damit verbunden ist die Beobachtung von Unsicherheit, Unerwartetem bis hin zu erratischen Verhaltensweisen oder der Auflösung der Regeln, dem Chaos. Im Zentrum steht, dass das Verhalten politischer Akteure schwerer voraussehbar ist.

Welche Folgen hat das, national wie international?

Das Wahlverhalten wird zum Beispiel sprunghafter, die Bürger entscheiden sich immer öfter kurz vor den Wahlen, häufig unter dem Einfluss jüngster Ereignisse. Anzeichen erratischen Verhaltens gibt es besonders dort, wo viel Macht in einer Person konzentriert ist, wie in den USA.

Sie denken an Donald Trump oder Matteo Salvini, den italienischen Innenminister?

Es gibt Regierende die das Brechen von Regeln als Herrschaftstechnik einsetzen. Es können auch Institutionen wie Parteien sein, die einen Teil ihrer stabilisierenden Wirkung verlieren und unter dem Einfluss starker Führungspersönlichkeiten große Umschwünge vollziehen - populistische Parteien etwa.

Befördert der Populismus die Turbulenz?

Institutionen der repräsentativen Demokratie - Parteien, Gewerkschaften, die klassischen Medien, Gerichte - gelten Populisten als Störfaktoren, weil sie zwischen den "Volkswillen" und die Regierenden treten, weil sie den "Volkswillen" angeblich verfälschen. Deshalb wollen Populisten diese Institutionen schwächen. Gelingt ihnen das und treten sie auch noch in die Regierung ein, wächst ihr Spielraum, weniger regelgebunden zu handeln. Und solches Handeln wird schwerer vorhersehbar.

Ändert sich also das Politische gerade grundlegend?

Da gibt es große Unterschiede, allein schon in Europa. In Ländern wie Deutschland sind die vermittelnden Institutionen noch stark und wirken stabilisierend. In anderen Teilen ist die Schwächung der Parteien oder Gewerkschaften deutlich weiter fortgeschritten, und die Medien sind in einem Erosionsprozess. In Ländern wie Ungarn wird die Schwächung der Institutionen nicht nur in Kauf genommen, sondern zum Programm erklärt. Solche Auflösungserscheinungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit politischer Turbulenz.

Vielleicht gibt es schon neue Regeln, und wir sehen sie noch nicht?

Das ist eine spannende Frage. Durch die sozialen Medien ist ein neuer politischer Raum entstanden, dessen Regeln im Entstehen sind. Das betrifft die Frage, wie Themen gesetzt werden oder verschwinden. Oder welche Verbindung besteht zwischen der digitalen Welt und der Welt der Parteien und Organisationen.

Was lässt sich da schon erkennen?

Eine Folge ist eindeutig: weitere Beschleunigung. Diskussionen im Internet, Trends in den sozialen Medien, Emotionen, die da zum Ausdruck kommen, können unmittelbar beobachtet werden, werden nicht gefiltert. Die Öffentlichkeit muss nicht warten, bis eine Organisation sich zu einem Thema äußert oder bis ein Leitartikel dazu erscheint. Die Politik sieht sich einem sofortigen Handlungsdruck ausgesetzt. Sie kann solche Meinungen und Stimmungen kaum ignorieren oder abwarten, bis sich die Dinge setzen und über die - zeitaufwändigen - Institutionen der repräsentativen Demokratie Lösungen gefunden werden.

Aber die sozialen Medien bieten doch auch Chancen.

Sicher, und es wäre falsch, sie vor allem als Problem anzusehen. Sie bieten zum Beispiel neue Kommunikationsmöglichkeiten von der Politik hin zu den Bürgern: unvermittelt. Donald Trump richtet sich an den klassischen Medien vorbei direkt an die Wähler. Er setzt das Erratische gezielt ein, arbeitet mit Überraschungsmomenten. Man weiß nie, wann der nächste Tweet kommt und wozu. Das garantiert ihm die ständige Aufmerksamkeit der politischen Beobachter und erschwert es der Opposition, ihm Paroli zu bieten.

Wenn wir die internationale Ebene nehmen: Statt des vergleichsweise überschaubaren Ost-West-Konflikts konkurrieren wieder mehrere Machtzentren miteinander. Es ist wenig überraschend, dass die Welt dadurch instabiler wirkt.

Überraschend ist, von wem die Instabilität ausgeht. Man hatte erwartet, dass Mächte wie China oder Indien die vom Westen geschaffene Ordnung destabilisieren. Stattdessen machen das jetzt, wie mein Kollege Bernhard Zangl analysiert hat, vor allem die USA, die als Hauptprofiteur dieser Ordnung galten. Sie scheinen damit gegen ihre Interessen zu handeln, das bringt mehr Unsicherheit in das System.

Ist diese neue politische Welt gefährlicher?

Es gibt ein Gefahrenpotenzial. International stellen viele die EU, aber auch andere Instrumente der Zusammenarbeit infrage: Nato, UN, das Hilfswerk für Palästina, die Unesco, die Welthandelsorganisation. Solche Institutionen setzen Grenzen, innerhalb derer politisches Handeln möglich ist. Je mehr es gelingt, an diesen Institutionen vorbei zu regieren, desto größer sind die Turbulenzen.

Wie kann man sich einstellen auf das Unvorhersehbare?

Die Frage ist, wie diese Entwicklungen mit der repräsentativen Demokratie in Einklang zu bringen sind. Denn in deren Institutionen, etwa im Parlament, geht es ja nicht allein darum, dem oft wechselhaften Wählerwillen Ausdruck zu verschaffen, sondern darum, verlässliche Mehrheiten zu schaffen, damit Entscheidungen langfristig tragbar sind. Das setzt Aushandlungsprozesse, Kompromisse voraus.

Das ist die Idee des responsiven Regierens.

Ja, ein Kernprinzip der repräsentativen Demokratie: dass Regierungen nicht systematisch am Willen der Bürger, wie er in Wahlen zum Ausdruck kommt, vorbei regieren. Dazu muss dieser Wählerwille auch einigermaßen stabil sein. Er wird aber immer volatiler und überträgt sich unmittelbarer in die Politik, weil er nicht mehr durch die dicke Schicht von Gewerkschaften, Parteien, Medien gefiltert und abgekühlt wird.

Wenn wir nach vorn schauen: Könnte irgendwann auch wieder mehr Ruhe einkehren in die Politik?

Ich erwarte, dass das Anti-Institutionelle, Unmittelbare auch wieder umschlägt, weil die Kosten deutlich werden. In den Umfragen wird die EU offenbar wieder stärker geschätzt. Manche sagen, das hat mit dem Brexit zu tun. Vielleicht ist mit der Wahl Trumps die Hoch-Zeit des Populismus schon vorbei. In Großbritannien sehen Sie, in welche Zwangslage man geraten kann, wenn man versucht, repräsentative Institutionen mit direktdemokratischen Verfahren zusammenzuspannen. Vielleicht fragen sich jetzt manche, die mehr direkte Demokratie ins Grundgesetz bringen wollen, ob das wirklich zusammenpasst.

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