Süddeutsche Zeitung

Weltordnung nach Absturz von MH17:Der Krieg ist zurück

Die Kriege der Gegenwart sind heiße, in denen geschossen, geblutet und gestorben wird. Wie prekär die Weltlage ist, zeigt das abgestürzte Passagierflugzeug der Malaysia Airlines. Wer in diesen Zeiten Frieden und Ordnung schaffen will, muss seine Werte verteidigen können. Wehrhaft.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich

Jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und niemand schreckt ihn auf. Mit diesem Bild verhieß der Prophet Micha den Menschen vor 2700 Jahren ein Friedensreich. Es sollte lange dauern, bis die Vision in Reichweite konkreter Politik gelangte.

Am 11. September 1990 - exakt elf Jahre vor den Terroranschlägen auf New York und Washington - kündigte der damalige US-Präsident George Bush vor dem Kongress eine neue Ära an, "eine Welt, die anders ist, als die, die wir bisher kannten". Die Herrschaft des Rechts werde die Herrschaft des Dschungels ersetzen. Alle Völker der Welt würden in Harmonie gedeihen. Kurzum: Der Kalte Krieg sei vorbei.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist der Kalte Krieg zurück. Und nicht nur er. Für viele Menschen - in der Ostukraine, im Gazastreifen, in Israel, Syrien, Libyen oder dem Irak - ist der Krieg ein heißer, in dem geschossen, geblutet und gestorben wird. In Osteuropa, Arabien und am Mittelmeersaum, also in unmittelbarer Nähe des europäischen Westens, weiten sich die Kämpfe aus und bedrohen den Bestand ganzer Staaten. Statt Weltfrieden, den Bush Senior in Aussicht stellte, herrschen Unsicherheit und Gewalt.

Der Todesflug MH17 könnte dem Westen die Augen öffnen

Wenn es noch eines Zeichens bedurfte, wie prekär die Weltlage ist, so setzt dies jetzt ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines. Aus 10 000 Metern Höhe, unterwegs von Amsterdam nach Kuala Lumpur, stürzte die Boeing über dem ukrainischen Kriegsgebiet ab, wohl von einer Rakete abgeschossen.

Die 298 Toten erschüttern die Welt noch mehr als andere Tote nach Flugzeugkatastrophen. Sie fielen offenbar keiner Tücke der Technik zum Opfer, sondern Waffengewalt. Der Krieg auf dem Boden hat den Himmel erreicht und die internationale Luftfahrt getroffen. Die Toten kommen aus vielen Ländern. Womöglich wird Flug MH17 eine Zäsur setzen und den Menschen im Westen die Augen dafür öffnen, dass sie immer noch in Zeiten der Kriege leben.

Der alte Bush hatte darauf vertraut, die Globalmacht USA werde mit ihren Verbündeten die Herrschaft des Rechts und der Vernunft durchsetzen, gestützt auf internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen. Stattdessen wurden die USA immer schwächer. Bushs Nachfolger Barack Obama wählt häufig die Rolle des Zuschauers. Die UN haben dramatisch an Bedeutung verloren. Die Europäische Union ist zwischen Schuldenmachern und Sparern, Putin-Verstehern und Putin-Fürchtern, EU-Freunden und EU-Verächtern gespalten. Sie schreckt in ihrer derzeitigen Verfassung niemanden vor dem Einsatz von Gewalt ab.

Im Nachhinein sind die Fehler des Westens deutlich zu erkennen

Andere Mächte mit autokratischen Regierungen und nationalistischen Agenden erkennen das Vakuum und nützen es aus. Russland reißt einem anderen Staat, der Ukraine, ein Filetstück, die Krim, heraus. China poltert in Inselstreitigkeiten mit seinen Nachbarn und demonstriert, dass es sich nicht mehr mit einem Leben hinter seiner Mauer bescheidet. Und dann mischen auch noch Islamisten Syrien und den Irak auf, während Afghanistan vor einer Rückkehr der Taliban zittert und der Atomstaat Pakistan von eben diesen Taliban destabilisiert wird.

Ewiger Krieg statt ewiger Frieden. Wie konnte das Projekt des Präsidenten Bush derart scheitern? Im Nachhinein ist es leichter, Fehler zu erkennen. Die Anschläge des 11. September 2001 stürzten die USA in Sicherheitsexzesse und die Missachtung jener Prinzipien von Recht und Freiheit, die sie sonst propagieren. Guantanamo, weltweite Entführungen und hemmungsloses Spionieren beschädigten die Überzeugungskraft Amerikas. George W., der Sohn des Friedens-Bush, schwächte die USA politisch wie moralisch durch seinen Irakkrieg.

Auf der anderen Seite des atlantischen Werteraums erweiterte sich die Europäische Union, ohne sich zu vertiefen, das heißt, ohne sich eine schlagkräftigere Struktur zu geben. Eine Annäherung mit Russland scheiterte. Die Entfremdung mit den USA schritt voran. Zudem neigen die Europäer, nach einer äußerst kriegerischen Vergangenheit, heute dazu, die Welt so idealistisch bis blauäugig zu sehen wie einst der alte Bush. Die Ukraine-Krise steht beispielhaft dafür.

Europa verhandelt - Putin rüstet die Rebellen auf

Viele Europäer glauben, Konflikte ließen sich stets mit gutem Willen und ganz viel Diplomatie lösen. Der russische Präsident sollte ihnen zu denken geben. Putin erstrebt keinen Kompromiss. Er will die Ukraine zersetzen, damit sie nicht nach Westen geht. Während Europa verhandelt, rüstet er Rebellen auf. Europas Krisendiplomatie hat hier keine Zeit gewonnen - sondern verloren. Selbst der Schock über den Absturz des Flugzeuges, der Putin nun nach einer Waffenruhe rufen lässt, wird nicht lange heilsam wirken.

Ja, die Weltlage ist düster wie seit Langem nicht mehr. Die Europäer sollten darauf reagieren. Sie könnten die ukrainischen Dramen zum Anlass nehmen, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überdenken. Die Wehretats dürfen nicht länger sinken. Die EU-Staaten müssen wieder mehr für ihre Sicherheit ausgeben, zumal die USA immer widerwilliger dafür eintreten.

Auch in so kaltkriegerische Dinge wie Spionage und Cyber-Abwehr müssen die Europäer viel mehr als bisher investieren, wenn sie von kommenden Großmächten - und vom alten Freund USA - ernst genommen werden möchten. Allein schaffen das europäische Staaten nicht. Gemeinsam wäre es möglich.

Deutschland lebt im Auge des Taifuns

Natürlich erfordert das viel Geld und politische Überzeugungskraft. Gerade die Deutschen tun sich schwer damit. Sie genießen seit dem Zweiten Weltkrieg eine Friedensdividende. Auch heute noch prosperiert das Land, inmitten von lauter Krisen. Das verführt zu dem Eindruck, man lebe in guten Zeiten. Dabei liegt Deutschland lediglich im Auge des Taifuns.

Rüstung, Spionageabwehr, Cyberwar - soll Europa ein bellizistischer Kontinent werden? Keineswegs, und schon gar nicht in der Ukraine. Die EU soll sich rüsten, um Kriege besser verhindern zu können. Ein wehrhaftes Bündnis wird erfolgreicher sein, wenn es Verhandlungen anbietet. Diplomatie gegenüber Putin in der Ukraine-Frage, die die EU weiter versuchen muss, hat dann mehr Sinn.

Zugleich könnten Deutschland und die ganze EU einen neuen Modus vivendi mit den USA suchen. Kritischer, weniger gefühlig, weniger erwartungsvoll. Streit muss energisch ausgetragen werden. Zugleich aber bleiben die USA der wichtigste Partner Europas, wenn es darum geht, einem neoimperialistischen Russland, einem expansiven China oder eroberungswütigen Islamisten Grenzen zu setzen.

Der Tod Hunderter argloser Passagiere über der Ostukraine mahnt: Ewigen Frieden, wie er Immanuel Kant vorschwebte, wird es nie geben. Doch so gewaltsam, wie die Welt ist, muss sie nicht bleiben.

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SZ vom 19.07.2014/ipfa
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