70 Jahre Weltkriegsende:Europas Tag

Gedenken zum 70. Jahrestag des Kriegsendes

Zum Gedenken des Kriegsendes liegen Blumen am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin.

(Foto: Stephanie Pilick/dpa)

Nach dem 8. Mai 1945 erwuchs aus der Angst voreinander und dem starken Wunsch nach "Nie wieder" ein vereintes Europa. Nun ist die Angst verschwunden, und die EU braucht eine neue Begründung. Es gibt sie.

Von Stefan Ulrich

Berlin gedenkt. Moskau feiert. Und trotz der neuen Zwistigkeiten dieser Zeiten sind sich doch alle einig: Die deutsche Kapitulation am 8. Mai 1945, die den Sieg der Alliierten über das Reich der Nazis besiegelte, ist ein Schlüssel-Datum der Geschichte. Vorher war Dunkelheit, nun wurde Licht. Vorher herrschte das Böse, nun war dem Guten Bahn gebrochen.

Der 8. Mai dient seither als Chiffre für das Ende des Krieges, für Frieden und Befreiung. Dabei tobte der Krieg in Asien weiter. Im August 1945 warfen die Amerikaner Atombomben auf japanische Städte. In europäischen Ländern begannen Bürgerkriege. In Afrika und Asien bahnten sich Anti-Kolonialisierungskriege an. Die östlichen Teile Europas gerieten unter die Knute eines anderen, des sowjetischen Totalitarismus, der keinen Holocaust, aber doch Millionen Tote zu verantworten hat.

Frieden, Freiheit, 8. Mai? Man könnte die Bürger von Nagasaki fragen, die Balten oder all die Russen, Polen, Ukrainer und auch Deutschen, die nach jenem Tag Opfer wurden. Das Böse wirkte auch nach der Kapitulation der Nazis weiter. Dennoch ist es richtig, den 8. Mai so hervorzuheben, wie das der Historiker Heinrich August Winkler im Bundestag tat, als er sagte, in der deutschen Geschichte gebe es keine tiefere Zäsur als diesen Tag. Damals öffnete sich eine Tür im Haus der Geschichte. Sie führte in einen lichteren Raum: in das Europa von heute. Die Bewohner dieses befriedeten Kontinents ergehen sich derzeit in krisengetriebener Übellaunigkeit. Es lohnt sich für sie, nachzudenken über jenen Tag, der so fern und doch seltsam nahe ist; über seine Bedeutung für die vergangenen 70 Jahre und die Zukunft.

Der 8. Mai steht für das Ende des Weltkriegs in Europa. Er steht für das Scheitern der bösartigsten Hybris der Historie, der nazistischen Rassenideologie samt ihrer völkermörderischen Unmenschlichkeit. Er steht für die Vergeblichkeit aller Versuche, Europa mit Gewalt unter der Herrschaft einer Nation zu einen. Und er steht für das Ende der Vorherrschaft Europas im großen Rest der Welt. Insoweit ist dieser 8. Mai ein Schlusspunkt.

Zugleich wurde er zum Anfang einer Ära, mit der wohl allenfalls die augusteische Pax Romana konkurrieren kann. Von wenigen Ausnahmen, etwa im zerfallenden Jugoslawien und jetzt in der Ukraine, abgesehen, schweigen in Europa seit 70 Jahren die Waffen. Und das auf einem Kontinent, auf dem die Völker dicht beieinander siedeln und sich Jahrtausende lang bekriegten. Der Zivilisationsbruch der Nazis und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs lehrten die Europäer, fortan in Frieden miteinander leben zu wollen. Das gelang, wenn es auch zwischen West und Ost bis 1989 nur ein kalter Frieden war. Frieden ist möglich - das ist eine Erkenntnis, die sich mit diesem 8. Mai verbindet.

Der 8. Mai war Neuanfang, der Tag wurde zum Ausgangspunkt des vereinten Europas. Die Motivation war danach groß, es endlich anders zu machen. "Nie wieder", das war keine Floskel, sondern brennende Notwendigkeit. Fünf Jahre später, am 9. Mai 1950, hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine Rede, die fortwirkt. Er schlug eine Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor, die Krieg zwischen Deutschland und Frankreich unmöglich machen sollte. Daraus sollte eine europäische Föderation entstehen, "die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist". Und tatsächlich: Frieden, Freiheit und Wohlstand gediehen, und zwar so sehr, dass sie allmählich zum Gewohnten wurden in Europa.

Renationalisierung und Abschottung

Dieses neue Europa wurde von starken Kräften vorangebracht: von der Angst der Völker voreinander, vor allem vor den Deutschen. Von der Furcht vor der Sowjetunion. Vom Schutz der USA. Heute sind diese Kräfte erschöpft. Die Jungen können sich Kriege zwischen Deutschen und Franzosen oder Polen kaum vorstellen. In Putin, diesem Erbe des Sowjet-Imperialismus, erblicken manche Europäer einen tapferen Krieger gegen ein präpotentes Amerika. Und die USA interessieren sich nicht mehr sonderlich für Europa.

Vor allem aber bröckelt der Kitt zwischen den Europäern selbst, die aus Angst erwachsene Eintracht erodiert. Vorurteile leben, geschürt von der Wirtschaftskrise, wieder auf: der faule Grieche, der herrische Deutsche, der reformträge Franzose. Der Druck der Globalisierung lässt die Spannungen steigen. Das Chaos in der Nachbarschaft, in der Ukraine oder in Arabien, erhöht das Gefühl der Unsicherheit. Viele Europäer suchen ihr Heil in Renationalisierung und Abschottung, "Wahre Finnen", britische Konservative, die ungarische Jobbik-Partei, der französische Front National. Sie alle möchten sich in ihren Nationen verbarrikadieren und das Europa, das seit jenem 8. Mai entstanden ist, schwächen oder zerstören.

Die Zustimmung, die Europa lange genoss, bröckelt. Frieden und Freiheit sind in der EU alltäglich geworden. Franzosen, Tschechen, Deutsche und Griechen mögen sich über manches streiten - Angst voreinander haben sie nicht. Das ist der schönste Triumph der Europa-Idee; und doch zwingt er die EU, sich eine neue Begründung zu suchen, die sie künftig trägt.

Was soll die Völker der Union zusammenhalten? Ein äußerer Feind? Russland? China? Dann würde Europa wieder auf Furcht erbaut. Die EU greift heute so tief in das Leben der Bürger ein, dass sie eine positive Begründung braucht. Es gibt sie: das gemeinsame Lebensmodell. Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte. Ein starker Sozialstaat. Die Bereitschaft, Konflikte durch Kompromisse zu lösen, Offenheit gegenüber der Außenwelt und Ehrlichkeit gegenüber der Vergangenheit.

70 Jahre nach dem Krieg wirken die Europäer elendig verzagt. Doch wer heute als willkommener deutscher Gast durch die Warschauer Altstadt spaziert, mag den Fotos kaum glauben, die deren Zerstörung durch deutsche Truppen dokumentieren. Wer in den Museen der Normandie Filme von Weltkriegsschlachten sieht, findet es nicht mehr selbstverständlich, dass an den selben Orten heute französische, deutsche und britische Touristen über grüne Hügel voller Apfelbäume wandern. Zwischen 1945 und 2015 ist in Europa ein Wunder geschehen. Der 8. Mai sollte auch in Deutschland ein Feiertag sein.

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