Weltkriegs-Gedenken und Ukraine-Krise:"Hohes Risiko, Geschichte falsch zu deuten"

Ute Frevert, Jahrgang 1954, ist Historikerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin

"Historia magistra vitae est" (Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens; Anm. d. Red.): Diese Weisheit ist seit Beginn der Moderne fragwürdig geworden. In dem Maße, in dem man sich von der Vorstellung eines zyklischen Geschichtsverlaufs verabschiedete und die Zukunft als prinzipiell offen begriff, geriet die Vergangenheit als Lehrmeisterin der Gegenwart in Verruf. Vor diesem Hintergrund nehmen sich historische Analogien und Lehrsätze, wie sie immer wieder und jetzt erneut bemüht werden, grundsätzlich schief und irreführend aus.

Dahinter verbergen sich genuin politische Aussagen und Botschaften, die sich ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen, um an Überzeugungskraft zu gewinnen. Doch selbstverständlich ist Putin nicht Hitler, und die territoriale Expansion Russlands in Richtung Krim und Ostukraine verfolgt völlig andere Ziele als die in der Tschechoslowakei 1938 beginnende Lebensraum-Politik des Nationalsozialismus.

Ebenso lässt die Assoziation "Julikrise 1914" außer Acht, dass es damals nicht nur andere innen- und außenpolitische Mächtekonstellationen gab, sondern auch andere Weltbilder und Kriegserfahrungen auf politische Entscheidungen einwirkten.

Zweifellos ist historisches Wissen wichtig, um solche Entscheidungen, damals wie heute, erklären und gewichten zu können. Und auch historische Vergleiche können hilfreich sein - aber nur dann, wenn sie auf voreilige Analogieschlüsse verzichten und neben dem (vorgeblich) Ähnlichen auch das Verschiedene in die Analyse einbeziehen.

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Straßenszene aus der russisch kontrollierten Stadt Sewastopol auf der Krim vom Frühjahr 2014. Auf dem Plakat zur Abstimmung über die Zugehörigkeit der Krim wird suggieriert, dass bei einem Verbleib der Halbinsel bei der Ukraine die Region faschistisch werde.

(Foto: Viktor Drachev/AFP)

Ulrich Herbert, geboren 1951, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg

Historische Analogien werden überschätzt. Im Ukraine-Konflikt wird das Vorgehen Russlands heute mit demjenigen Hitlers beim Münchner Abkommen von 1938 verglichen. Auf der anderen Seite wird die ukrainische Regierung von den russischen Medien als "faschistische Junta" bezeichnet. Das ist Teil des Kriegsgeschreis. Den Ukraine-Konflikt kann man ohne solche historischen Bezüge besser verstehen als mit ihnen.

Erstens: Die Annexion der Krim durch Russland ist ein inakzeptabler Bruch des Völkerrechts; die Unterstützung der ostukrainischen Separatisten durch Kriegsmaterial und russische Truppen ebenso.

Zweitens: Die Lösung des Konflikts kann nur auf dem Verhandlungswege und durch Kompromisse erreicht werden. Dabei sind die Interessen der Ukraine und ihrer westlichen Anrainer ebenso zu berücksichtigen wie diejenigen Russlands und der russisch orientierten Bevölkerungsgruppen in der Ostukraine.

Drittens: Dass die westlichen Staaten und die Bundesrepublik, wie der Bundespräsident formuliert hat, ihre "Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen" werden, ist ihr gutes Recht. Dies drohend anzukündigen, ist hingegen kritikwürdig, weil es zur Eskalation der Worte beiträgt.

Viertens: Nicht nur Polen und die baltischen Staaten haben historisch begründete Ängste. Eine Westorientierung der Ukraine, womöglich sogar ihr Nato-Beitritt wird in Russland als Bedrohung verstanden. Darauf in dieser Rede gar nicht eingegangen zu sein, wird man dem Bundespräsidenten vorhalten müssen.

James D. Bindenagel, Jahrgang 1949, ist Inhaber der Henry-Kissinger-Professur an der Uni Bonn. Der Experte für transatlantische Beziehungen fungierte über Jahrzehnte als Diplomat, unter anderem als amerikanischer Botschafter in Deutschland.

Wer Geschehnisse vereinfachen oder aus der Vergangenheit mögliche Lösungen für die Gegenwart ableiten möchte, für den sind historische Parallelen mächtige Instrumente. Dies ist aber immer mit dem hohen Risiko verbunden, Geschichte falsch zu deuten.

Mit der Annexion der Krim und den Attacken auf die Ukraine verfolgt der russische Präsident Wladimir Putin einen Plan: Er möchte das russische Reich wiederbeleben. Dazu verteidigt er ethnische Russen mit militärischer Gewalt. Aber Putins Großmachtpolitik verletzt die Werte, die Europa Frieden brachten. Zudem missachtet er die demokratischen Rechte der Ukraine. Erst warf er dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michael Gorbatschow vor, versagt zu haben, weil er 1989 die russischen Interessen in Ostdeutschland nicht vehementer verteidigte, dann beschuldigte er den Westen mit der Osterweiterung der Nato, Russland zu bedrohen.

Analysten zogen umgehend Vergleiche mit der Besetzung des Sudetenlandes und Österreichs durch Nazi-Deutschland. Dabei ist die Situation in der Ukraine wohl eher mit jener im Kosovo zu vergleichen. Denn Präsident Slobodan Milošević griff den Kosovo an, um Serbiens ethnisch-nationalistische Herrschaft auszubauen. Dafür focht er erneut die historische Schlacht auf dem Amselfeld aus. Die Nato intervenierte und beendete den Angriff.

Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenwürde: Alle Prinzipien, auf die sich Stabilität und Frieden in Europa nach dem zweiten Weltkrieg stützten, wurden in beiden Fällen missachtet. Gaucks Aufruf zu einer "Politik der Deeskalation, die harte Maßnahmen mit der Bereitschaft zum Kompromiss und Entschlossenheit mit Anpassungsfähigkeit verbindet", wird Putins Aggressionen nicht stoppen. Eine politische Lösung kann nur gefunden werden, wenn hinter der europäischen Diplomatie auch die Bereitschaft steht, Putins Großmachtbestrebungen entschieden entgegenzutreten. Zudem muss Putin bereit sein, die Militäraktionen zu beenden.

"Das Ritual aufgesprengt"

Deutsche Soldaten in Neu-Sandec in Russisch-Polen, 1915

Deutsche Soldaten und orthodoxe Juden 1915 in Neu-Sandec im damaligen Russisch-Polen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Magdalena Waligórska, ist Professorin an der Universität Bremen für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Polen

Machiavelli war der Ansicht: Wer die Zukunft voraussehen wolle, müsse in die Vergangenheit blicken. Dennoch ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, welche Fehler Menschen gemacht haben, wenn sie aus der Geschichte lernen wollten.

Im Jahr 1915 erinnerten sich die Russen an die Napoleonischen Kriege - in ihrem Bemühen, den deutschen Angreifern nur verbrannte Erde zu hinterlassen, zwangen sie mehr als eine Million weißrussische Bauern, ihre Dörfer zu verlassen und ihre Häuser niederzubrennen, um die Versorgung der Deutschen mit Lebensmitteln und Nachschub zu verhindern. Dabei übersahen sie die Tatsache, dass die Angreifer über ein gutes Eisenbahnnetz verfügten und die Versorgung auf diese Weise sichern konnten.

Die polnischen Juden wiederum, die im Ersten Weltkrieg von den deutschen Truppen relativ gut behandelt worden waren, vertrauten im Zweiten Weltkrieg ebenfalls auf historische Erfahrung - viele von ihnen verpassten die Gelegenheit, rechtzeitig zu emigrieren und dem Terror zu entgehen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass sie es nun mit ganz anderen Deutschen zu tun hatten. Obwohl es verführerisch ist, die Geschichte zu bemühen, um die Zukunft zu verstehen oder politische Entscheidungen zu rechtfertigen, sollte man zurückhaltend bleiben.

Man kann aus der Geschichte lernen, was die aktuellen Streitpunkte und die Beweggründe der handelnden Akteure im Ukraine-Konflikt sind, aber der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg wird uns nicht helfen, eine für alle befriedigende politische Lösung zu finden.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, ist außerplanmäßiger Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg

Verstehen heißt ja nicht billigen. Aber gegenseitiges Verstehen ist die unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik der Deeskalation und Kriegsverhütung. Wer heute in den politischen Auseinandersetzungen den - abschätzig gemeinten - Begriff "Russland-Versteher" verwendet, gibt zu erkennen, dass er nichts begriffen hat.

Russische Außenpolitik ist geprägt von der historischen Erinnerung an den Einfall der napoleonischen Heere in das Land 1812, von der Erinnerung an die deutsche Aggression im Ersten Weltkrieg und den für Russland außerordentlich harten und demütigenden Frieden von Brest-Litowsk 1918, von der Erinnerung an den Überfall der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 und die sich anschließende völkerrechtswidrige Vernichtungspolitik im Dienste deutscher Lebensraum-Ziele, die 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete.

Weiterhin ist sie geprägt von der Erinnerung an 1989, an den machtpolitischen Zusammenbruch der Sowjetunion, der sich - welch Wunder! - gewaltfrei vollzog. Das Ende der Sowjetunion wurde dort auch als eine militärische Niederlage im Kalten Krieg wahrgenommen und damit als eine weitere tiefe Demütigung. Die derzeitige Regierung Russlands ist nicht zuletzt von diesen historischen Erfahrungen geprägt, von Sicherheitsbedürfnissen - vor der eigenen Haustür! - und von dem Bestreben, wieder als Großmacht respektiert zu werden.

Am Willen zum Verstehen und zur Deeskalation hat es 1914 insbesondere bei den Regierungen in Wien und in Berlin gefehlt. Stattdessen waren die Akteure bereit, einen Großen Krieg zu riskieren. Im aktuellen Ukraine-Konflikt übt sich die deutsche Bundesregierung, vorweg ihr Außenminister, vor und hinter den Kulissen um Eindämmung und Deeskalation. Den Deutschen steht es gut an, jeden verschärfenden Wortgebrauch zu vermeiden.

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die Formel, dass wir, die Deutschen, "aus der Geschichte gelernt hätten", gehört zum Grundvokabular des deutschen politisch-kulturellen Selbstverständnisses - zu dem der alten Bundesrepublik ebenso wie zu dem der ehemaligen DDR, auch im wiedervereinten Deutschland darf in Festansprachen diese Versicherung nicht fehlen. Insofern hat Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum 75. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen nur dem politischen Ritual genügt.

Aber er hat es gleichzeitig aufgesprengt, indem er das Lernen aus der Geschichte konkretisiert hat: dahingehend, dass das Verschieben von Grenzen nicht den Frieden sichere, sondern nur neue Begehrlichkeiten zur Folge habe. Dieser Satz ist uneingeschränkt wahr, sofern er auf die Deutschen bezogen wird. Gauck hat ihn aber nicht auf die Deutschen, sondern auf die russische politisch-militärische Elite bezogen.

Ist der Satz darum falsch geworden? Sind andere politische Akteure vom Lernen aus der Geschichte freigestellt? Oder handelt es sich bei der Redewendung bloß um eine Leerformel, die man verwenden muss, aber nicht konkretisieren darf?

Jenseits der Frage, ob die in Gaucks Rede hergestellte Parallele zwischen 1938 und 2014 zutreffend oder zumindest aufklärend ist, ist mit der Debatte über historische Parallelen auch die deutsche Selbstversicherung, man habe "aus der Geschichte gelernt", zur Disposition gestellt: nicht durch Gauck, sondern durch seine Kritiker. Wenn man nämlich nicht sagen darf, was man gelernt hat, oder das Gelernte nur für die Deutschen, sonst aber für niemanden gilt, dann hat man tatsächlich nichts gelernt.

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