Süddeutsche Zeitung

Zweiter Weltkrieg:Als jungen Soldaten eine "wundervolle Zeit" versprochen wurde

  • Frederick Taylor beschreibt spannend den Alltag der Deutschen und Briten vor 80 Jahren, in einer Zeit, als der Zweite Weltkrieg begann.
  • Sein Befund: Die Sorgen waren ähnlich, doch die Ideologie war völlig anders.

Rezension von Cord Aschenbrenner

"Haben Sie ein Tier im Haus?" Eine scheinbar harmlose Frage, die das in London erscheinende linke Massenblatt Daily Mirror am 28. August 1939 seinen Lesern stellte. In dem folgenden Artikel beschäftigte sich eine Redakteurin jedoch damit, was auf britische Haustierbesitzer im Falle von Bombardierungen, Gasangriffen und Evakuierungen zukäme - gebe es genügend Futter, was tun bei Luft- und Gasangriffen, müsse man das Tier gar einschläfern?

Zu dieser allerletzten Möglichkeit hatten im Jahr zuvor während der Sudetenkrise, kurz vor dem Münchner Abkommen im September 1938, als ein Krieg in Europa nahe schien, schon mehrere Tausend britische Tierfreunde gegriffen.

Nun, im Zuge der sich täglich verschärfenden Krise um Danzig und angesichts eines drohenden deutschen Angriffs auf Polen verloren viele britische Hundebesitzer erneut die Nerven und baten die nationale Hundeschutzliga NCDL um Hilfe beim Einschläfern ihrer Tiere.

Dieses Detail aus dem August 1939 hat der englische Historiker Frederick Taylor, Verfasser viel gelesener Bücher etwa über die Zerstörung Dresdens 1945 und über die Berliner Mauer, für sein Buch über die unmittelbare Vorkriegszeit ausgegraben.

Aus dem Land, mit dem das Vereinigte Königreich wenig später im Krieg liegen sollte, sind ähnliche Sorgen nicht bekannt, die deutschen Hundefreunde vertrauten vielleicht auf die Überlegenheit der deutschen Luftabwehr. So wie es die von Taylor mehrfach zitierte, wie alle Blätter gleichgeschaltete Freiburger Zeitung im August 1939 tat: "Deutscher Geist (...), artilleristisches und fliegerisches Können (...) werden jeden Angriff kläglich zugrunde richten, bis zur restlosen Vernichtung."

Im Deutschen Reich gab es längst schon den "Reichsluftschutzbund" mit 15 Millionen Mitgliedern im Jahr 1939; rigorose Luftschutzübungen waren obligatorisch. Die Briten ihrerseits stellten eher widerstrebend ihre Luftschutzorganisation ARP innerhalb eines knappen Jahres auf die Beine, nämlich zwischen dem Münchner Abkommen und der sich zuspitzenden Krise um Danzig.

Im Sommer 1939 wurde schließlich die Wehrpflicht für die Jahrgänge 1918 und 1919 eingeführt, auf sehr britisch-zivile Weise, die jeden Anschein von Militarismus vermeiden sollte. Rekruten wurden, so berichtete der Sunday Express, von einem Stabsunteroffizier mit den Worten begrüßt: "Sie werden eine wundervolle Zeit haben."

Der bisherigen Appeasementpolitik der Regierung von Neville Chamberlain und einer verbreiteten Angst in Großbritannien vor einem neuen Krieg in Europa zum Trotz - die Augen völlig verschließen vor dem, was drohte, konnte und wollte kaum jemand auf der Insel.

Zwei sehr unterschiedliche Gesellschaften in Bezug gesetzt

Dieser ambivalenten Haltung zu dem Aggressor Hitler stellt Taylor die ebenfalls alles andere als kriegslüsterne Haltung großer Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber.

Allerdings lebten die Deutschen in einem gründlich militarisierten und hochgerüsteten Staat, regiert von einem nach innen wie außen gewalttätigen Regime, das viele guthießen, weil es die "Schmach von Versailles" getilgt hatte und außerdem für Arbeitsplätze sorgte, unter anderem in der Rüstungsindustrie. Trotzdem behaupteten die Nationalsozialisten, Hitler sei ein "Mann des Friedens".

Die Deutschen glaubten dies, wenigstens aber schwiegen sie dazu, so wie sie überwiegend auch zu den Pogromen am 9. November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung und zur Zerstörung von Synagogen und Geschäften geschwiegen hatten.

Zwei sehr unterschiedliche Gesellschaften sind es also, die Taylor im letzten Vorkriegsjahr unter die Lupe nimmt: hier die pragmatischen, demokratisch regierten Briten, dort die Hitler-Diktatur, eine "durchaus typische westliche Konsumgesellschaft", wie der Autor schreibt, aber unberechenbar und unersättlich in ihrem ideologisch motivierten Hunger nach räumlicher Ausdehnung und militärischer Stärke; politisch-ideologisch wie lebensweltlich einander entgegengesetzt (obwohl es, wie Taylor zeigt, hüben wie drüben Sympathisanten für die jeweils andere Seite gab, deutsche Demokraten und NS-Gegner wie auch britische Antisemiten und Faschisten), aber auch vielfältig miteinander verbunden - Dramatik und Fallhöhe der historischen Anordnung lassen wenig zu wünschen übrig.

Taylor hat mithilfe zahlreicher Quellen wie Zeitungen, Erinnerungen, Dokumenten, unbekannten und bekannten Tagebüchern wie denen der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, Briefen und noch lebender Zeitzeugen (die damals Kinder waren und deren begrenzte Sichtweise er betont) "ein Mosaik öffentlicher und privater Ansichten" der beiden auf den Krieg zutreibenden Gesellschaften geschaffen: eine wahre Fülle an Stimmen, die geschickt und spannungsreich miteinander verwoben sind.

Man liest über den Alltag in den beiden Vorkriegsgesellschaften und über die Gemütslage von Durchschnittsbürgern, erfährt, was die Menschen bewegte und bestimmte: durchaus nicht nur der drohende Krieg, sondern der Beruf, ihre Kinder, die nächsten Ferien, das neue Haus. Die Normalität, mit anderen Worten.

Taylor denkt bei seiner Analyse auch an den "Tiefpunkt des Brexit-Votums"

Zur Normalität in Großbritannien gehörte auch, dass die Bereitschaft, verzweifelte jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen, nicht besonders ausgeprägt war. Der Daily Express sprach in einem Kommentar im Juni 1939 für viele Briten: "Wenn wir Flüchtlingen in diesem Land eine Heimat geben, werden sie zur Bürde und zum Ärgernis." Stattdessen schlug der Kommentator vor, diese Menschen in unterbevölkerten Gebieten des Empire anzusiedeln.

Bei solchen Tönen ist es kaum zu vermeiden, an Europas Gegenwart zu denken. Diese hat auch Taylor im Sinn, wenn er einleitend schreibt, dass man lange geglaubt habe, "die brutale und unberechenbare Welt der 1930er-Jahre" hinter sich gelassen zu haben. Stattdessen: der "Tiefpunkt" des Brexit-Votums und "primitive nationale Selbsterhöhung" in Europa.

Auf weitere aktuelle Bezüge verzichtet Frederick Taylor. Sie kommen einem bei der Lektüre dieses fesselnden Buches ohnehin in den Sinn.

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SZ vom 26.08.2019
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