Deserteur bei Kriegsende 1945:Ein Junge wie Schweijk

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Mit List, Glück und Chuzpe: Wie sich der damals 17 Jahre alte Rainer Schepper erfolgreich Hitlers Krieg verweigert - und immer wieder die Nazis narrt.

Oliver Das Gupta

Keine Lust auf Krieg: Rainer Schepper als Jugendlicher in Uniform (Foto: agenda Verlag)

Schepper, Jahrgang 1927, wächst in Münster in Westfalen und Warendorf auf. Seine Mutter ist eine gläubige Katholikin, deren regimekritische Einstellung Rainer früh übernimmt. Der Vater ist ein überzeugter Nazi, der seinen Kindern nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 mit Schadenfreude die zerstörten jüdischen Einrichtungen in der Region zeigt. Rainer ist erschüttert über die Ausschreitungen.

Er kann dem Regime nichts abgewinnen: Die Uniformen, die brüllenden Massen und Hitlers Ideologie widern ihn an. Nach der Scheidung trickst der Junge, bis er schließlich bei der Mutter bleiben darf; gemeinsam hören sie Feindsender. Der Jugendliche nimmt sich vor, nicht in den Krieg zu ziehen: Er will auf keinen Fall auf andere Menschen schießen. Bei SZ.de erzählt Rainer Schepper, wie er mit List, Glück und bemerkenswerter Chuzpe dem Fronteinsatz entkommt.

"Schon in meiner Zeit als Flak-Helfer habe ich mich oft krank gestellt, um dem Dienst zu entkommen. Mit Erfolg. Ich wurde als 'nicht einsatzfähig' eingestuft und entlassen. Später sollte ich wieder einberufen werden, konnte mich aber zunächst entziehen, weil ich fastete: Wer mehr als 50 Kilogramm wog, wurde eingezogen - ich lag drunter. Meine besorgte Mutter brachte mich dazu, mehr zu essen. So wurde ich schwerer - und beim nächsten Mal als 'verwendungsfähig' gemustert.

Ich musste zum Reichsarbeitsdienst (RAD), nicht zur Wehrmacht, aber das machte kurz vor Kriegsende keinen Unterschied: Wir sollten kämpfen. Ich kam Anfang Januar 1945 in ein RAD-Lager im polnischen Turek, einen Ort nahe Lodz. Wir wurden am Karabiner ausgebildet, später bekamen wir auch Panzerfäuste.

Der Kniff mit der Obrigkeitshörigkeit

Als Frontgedonner zu hören war, markierte ich einen Ohnmachtsanfall und machte auf kranken Mann. Als das Lager verlegt wurde, gab es eine neue Situation: Ich wurde plötzlich nicht mehr als Kranker angesehen. Der Feldarzt wollte mich kriegsverwendungsfähig (KV) schreiben.

Ich berief mich auf den vorherigen Befund, worauf er sich nicht einließ. Da drehte ich den Spieß um - denn ich kannte ja die obrigkeitshörige Mentalität der Nazis - und sagte dem Arzt: 'Wenn Sie mich KV schreiben und ich im Einsatz versage und die Kameraden gefährde, dann tragen Sie die Verantwortung.' Da sackte ihm das Herz in den Stiefel! Ich wurde mit einem wirklich Kranken zurückbeordert. Gemeinsam mit einem Feldmeister machten wir uns auf den Weg. Wir hatten ein Fahrrad, auf dem der Kranke und ich abwechselnd fuhren.

Der Feldmeister ging zu Fuß. Wir fanden ein weiteres herrenloses Rad, vielleicht stammt es von einem der Flüchtlingstrecks. Weiter ging es: Die 'Kranken' radelten, der Feldmeister marschierte. Nach vielen Stunden hatten wir uns von ihm entfernt, so weit, dass er uns aus dem Blick verloren hatte - er war müde und es herrschte ein Durcheinander sondersgleichen auf der Straße. Da sind wir beiden abgehauen."

Kriegsende 1945
:"Ich schrie: Nehmt mich mit!"

Rolf Ostheim ist 19, als er im März 1945 als Soldat das sterbende Nazi-Reich verteidigen soll. Der Zeitzeuge aus Österreich erzählt vom familiären Antisemitismus, von seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung und vom Tag, an dem er sein Bein verlor.

Protokoll: Johannes Honsell

Schepper und sein Gefährte ziehen gen Westen via Liegnitz, einem niederschlesischen Ort, der heute polnisch ist. Sie steigen auf einen offenen Güterzug, harren dort 14 Stunden bei tiefen Temperaturen aus, bis Rainer seine Beine nicht mehr spürt. Sie entwischen den gefürchteten Feldjägern. In einem der überfüllten Personenzüge gelangen sie über Leipzig nach Hannover. Dort trennen sich die Wege.

Schepper kommt heim nach Warendorf. Seine Füße schwellen an, sie beginnen sich dunkel zu färben: Erfrierungserscheinungen. Schepper geht zum Wehrmeldeamt und stellt sich dumm: Er sei von seiner Einheit versprengt, und melde sich nun ordnungsgemäß wieder. Seine Masche, die an den 'Braven Soldaten Schweijk' erinnert, verfängt wieder. Schepper kommt ins Krankenhaus, kuriert seine Erfrierungen aus.

Nach einigen Wochen können die Behörden seine Einheit ermitteln, genauer: Das, was davon noch übrig war. Seine Truppe wurde ins bayerische Regensburg verlegt. Anfang März 1945 erhält Schepper einen Marschbefehl.

"Mir war sofort bewusst: Ich darf dort nie ankommen, sonst werde ich wegen Fahnenflucht abgeurteilt. Es galt, so viel Zeit wie möglich zu gewinnen. Ich bin erst mal zu meiner Mutter heim, habe dann noch Abstecher hier und dorthin gemacht - aus heutiger Sicht unglaublich leichtsinnig. Dann hatte ich eine Idee: Ich fuhr immer dorthin, von wo Bombenangriffe gemeldet worden waren. So konnte ich behaupten, die Zerstörungen hätten meine Weiterfahrt behindert.

Also bin ich in den Ruhrpott, und habe mich nach den Bombenangriffen gerichtet. Meinen Fahrschein, einen DIN-A4-großen Zettel, habe ich vor Ort beim Bahnhofsvorsteher abstempeln lassen. Lückenlos konnte ich die Unmöglichkeit meiner Weiterfahrt nachweisen. Im Zug nach Kassel, wo ich bei einer Cousine unterkommen wollte, hatte ich dann Pech: Eine Feldjäger- Streife, nach meiner Erinnerung waren es SS-Kettenhunde, fing mich ab.

Da half erst mal nichts: Ich wurde nach Kassel vors Standgericht gebracht. Dort wollte man mich aburteilen, mir drohte die Todesstrafe. Ich berief mich auf meinen Fahrschein mit den Stempeln. Das war nun mal nicht zu widerlegen.

Ungern und nach langer Verhandlung haben sie mich dazu verknackt, ins Strafkommando nach Frankfurt am Main gebracht zu werden. Bei der Einheit nahe Frankfurt ging es inzwischen chaotisch zu. Der zuständige Offizier sagte irgendwann: 'Beim nächsten Fliegeralarm haut ihr ab. Hier gibt es nichts mehr zu verteidigen, Frankfurt ist umzingelt.'

Lebt in Münster: Rainer Schepper (Foto: agenda Verlag)

So kam es denn auch. Es war etwa der 27. März. Ich wollte bald meine Uniform loswerden. In einem Stall habe ich zivile Kleidung hängen sehen, die Uniform habe ich in die Jauchegrube geschmissen. Danach suchte ich in einem Straßenbunker Schutz, was unvorsichtig war: So wurde ein NSDAP-Ortsgruppenleiter auf mich aufmerksam. Der erkannte gleich, dass ich desertiert war. Ich stritt alles ab und erfand eine Geschichte.

Außerdem sagte ich, ich sei kein Wehrmachtsangehöriger, sondern bei der Musterung immer zurückgestellt worden - ich war ja auch mager wie ein Gerippe. Der Nazi blieb hartnäckig. Da setzte ich wieder auf die Reflexe, die ich schon bei dem Arzt gezogen hatten: Ich bat den Nazi, ihn mal alleine sprechen zu können. Und schnauzte ihn dann an (brüllt): 'Was fällt Ihnen eigentlich ein? Ich werde Sie anzeigen. Natürlich bin ich Soldat! Wir haben Befehl, die Uniform wegzuwerfen und uns durch die feindlichen Linien zu unserer Truppe durchzuschlagen. Sie zersetzen durch Ihre Fragerei die moralische Wehrkraft!'

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(Schepper lacht) Da wurde der blass und ließ sich ins Bockshorn jagen. Ich ließ mir den Weg in Richtung Front zeigen und war weg mit 'Heil Hitler'.

Schließlich landete ich in einem Gottesdienst - es war Gründonnerstag 1945 und damals war ich noch ein frommer Katholik. Bei der Gelegenheit habe ich einen mir als vertrauenswürdig erscheinenden Mann angesprochen. Er und seine Frau, die Eheleute Gräff, nahmen mich auf, bis die Amerikaner Frankfurt befreit hatten. Am 31. März machte ich mich auf nach Hause.

Auf meinem Heimweg traf ich allerlei Menschen, man fragte 'Woher, wohin?' Einmal kam ich mit einem Pärchen mit Kindern ins Gespräch. Ich schilderte meinen Weg und sie sagten: 'Da kommen sie ja auch durch Rhöndorf. Dann besuchen Sie doch unseren Freund, den Doktor Adenauer. Hier, geben Sie ihm unsere Karte, und sagen Sie ihm, dass es uns gutgeht. Er wird Sie bestimmt eine Nacht bei sich aufnehmen.' Ich wusste damals nicht, wer Adenauer war.

Mittags kam ich nach Rhöndorf, setzte mich erst mal auf eine Bank und wartete, weil ich nicht beim möglichen Mittagsschlaf stören wollte. Um drei ging ich zum Haus und schellte. Konrad Adenauer öffnete die Tür. Die Grüße nahm er kühl entgegen, fragte nach Woher und Wohin. Dann wünschte er mir eine gute Weiterwanderung und machte die Tür zu."

Rainer Schepper wandert am Rhein entlang in Richtung Norden. Mehrfach gerät er in riskante Situationen mit aufgebrachten, soeben befreiten Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen aus Polen und der Sowjetunion - er übersteht sie mal mit Glück, mal mit dem Trick, plattdeutsch zu reden und sich als Niederländer auszugeben.

Schepper kehrt wohlbehalten nach Hause zurück. Nach dem Krieg studiert er Germanistik und Pädagogik, arbeitet als Journalist und Lehrer, dann als Schriftsteller, Publizist und Rezitator insbesondere von niederdeutscher Sprache. Spät und auf Drängen seiner Tochter schreibt er seine Kriegserinnerungen auf. 2009 erscheint im Agenda-Verlag sein Buch Ich war Deserteur - Reminiszenzen aus dem Jahre 1945(ISBN 978-3896883865).

Rainer Schepper lebt in Münster.

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