Süddeutsche Zeitung

Das Jahr 1918:Sturm im November

Vor 100 Jahren meutern die kriegsmüden Matrosen, das Kaiserreich stirbt den Erschöpfungstod, die Revolution verläuft unblutig. Ein positiver Gründungsmythos ist mit dem 9. November lange nicht verbunden gewesen - doch das scheint sich gerade zu ändern.

Von Robert Probst

Am 10. November 1928 kehrt der Weltkrieg in die Köpfe zurück. Zehn Jahre nach dem Ende der Kämpfe beginnt die Vossische Zeitung mit dem Vorabdruck eines Romans, dessen Publikation der renommierte Verleger Samuel Fischer im Frühjahr abgelehnt hat mit der Begründung, niemand wolle mehr etwas über die Zeit des Sterbens und des Leidens lesen. Dem Deutschen Reich und seinen Bewohnern ging es doch nun einigermaßen gut. Sie hatten die Revolution, Putschversuche von links und rechts, die Ruhrbesetzung, die Inflation und den Aufstieg Hitlers und dessen vorläufige Bändigung durchgestanden. Sie hatten den Friedensvertrag von Versailles verdammt, aber zähneknirschend damit zu leben gelernt, sie hatten eine neue Verfassung, einen neuen Reichstag und einen Reichspräsidenten, der zugleich ein Kriegsheld gewesen war. Innenpolitisch war einigermaßen Ruhe eingekehrt und außenpolitisch arbeitete sich die Regierung langsam wieder hinein in die Staatengemeinschaft. Ja, es geht den Deutschen wieder besser, die meisten haben wieder festen Boden unter den Füßen.

Und dann kommt dieser Roman - und sofort sind die erbitterten Konflikte, die tiefen Gräben und die Bruchlinien von 1918 wieder da, als wären sie nie weg gewesen.

Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" ist sofort ein Sensationserfolg, und Samuel Fischer ärgert sich sehr bald über eine seiner größten Fehleinschätzungen. Das Publikum dürstet offenbar danach, den Krieg aus der Sicht des jungen Soldaten Bäumer und seiner Kumpel erzählt zu bekommen, die ungeschminkte Wahrheit aus den Schützengräben, die Sinnlosigkeit des Sterbens in einer riesigen Todesmaschine. Der Roman - er erscheint 1929 bei Ullstein - wird zum bis dahin größte Bucherfolg in der Geschichte der deutschen Literatur.

Remarque will berichten von einer Generation, "die vom Kriege zerstört wurde - auch wenn sie den Granaten entkam". Er zeichnet Entwurzelte, die nur noch Gewalt und Tod kennen und keine Werte mehr; er zeichnet Menschen, denen jede Zukunftsperspektive im Geschützdonner abhandenkommt. Und er liefert explizit keine Analyse der Kriegsursachen, er verzichtet auf einen politischen Standpunkt.

Der Roman wird aber beinahe ausschließlich politisch verstanden und interpretiert. Konservative und Nationalisten halten den Text für geeignet, das Andenken des deutschen Frontsoldaten zu "beschmutzen"; der völkische Autor Hans Zöberlein spricht gar von einem "zweiten Dolchstoß". Die liberale Presse begrüßt die Schilderung des Grauens und hofft auf eine pädagogische Wirkung. Die Linken ärgern sich über "pazifistische Kriegspropaganda", die kommunistische Rote Fahne rügt das Verschweigen der "Ursachen des Krieges, die in den politisch-ökonomischen Voraussetzungen der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaftsordnung liegen".

"Missmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter."

Es braucht nicht viel, und die Erinnerung an den November 1918 ist zurück. Am Tag vor dem Abdruck der ersten Folge des Romans in der Vossischen Zeitung hält Reichsinnenminister Carl Severing (SPD) am 9. November 1928 eine Radioansprache zum zehnten Jahrestag der Revolution. Er weiß, wie die politische Rechte diesen Tag sieht. "Der 9. November 1918 war in seinem letzten Grunde der Tag der Selbsthilfe eines gequälten Volkes, das zu seiner Führung kein Vertrauen mehr besaß und sich anschickte, sein Schicksal selbst zu schmieden. (. . . ) Wer den 9. November feiert, preist nicht das Werk einiger Verschwörer, sondern den Sturmtag des neuen Deutschland, an dem das Volk die Probe auf seine politische Reife und die Fähigkeit der Selbstverwaltung bestand. Die Republik war der Friede."

Doch die neue Republik von Weimar hat aus dem 9. November keinen Feiertag gemacht, die Festlichkeiten kann man jedes Jahr an einer Hand abzählen. Der Nationalfeiertag ist seit 1921 der 11. August - an diesem Tag des Jahres 1919 wurde die neue Verfassung unterzeichnet. Es scheint fast so zu sein, dass die Republikaner nicht so gern an die Geburtsstunde der Republik erinnert werden möchten, von den Rechten werden sie von Anfang an als "Novemberverbrecher" beschimpft. Und in seinen Erinnerungen schreibt der Publizist Sebastian Haffner, mit dem 9. November 1918 sei "seltsamerweise kein festliches Nachgefühl" verbunden, "vielmehr Missmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter".

Es stimmt, ein positiver Gründungsmythos der ersten deutschen Demokratie ist mit dem November 1918 lange Zeit nicht verbunden gewesen (und das lag sicher nicht am Wetter) - doch das scheint sich gerade zu ändern. Vor nunmehr 100 Jahren hat diese zweite deutsche Revolution nach 1848/49 stattgefunden - und nicht nur Historiker schauen zu einem solchen Jubiläum genauer hin. Vom Schicksal einer "vergessenen Revolution", die der Historiker Alexander Gallus vor nicht allzu langer Zeit noch beklagte, haben sich die Ereignisse 1918/1919 inzwischen gelöst, von einem Stillstand der Forschung kann keine Rede mehr sein. Die Zahl neuer Monografien ist hoch, das Interesse der Öffentlichkeit ebenso. Und es lässt sich festhalten, dass die Deutungen im Großen und Ganzen die Revolution in einem positiveren Licht erscheinen lassen, als sie lange gesehen wurde.

Die alten Erklärmuster der frühen Bundesrepublik - etwa Karl-Dietrich Erdmanns These aus dem Jahr 1955, es habe damals nur die Wahl gegeben zwischen westlicher Demokratie im Bündnis mit den alten erzkonservativen Eliten oder Bolschewismus - und auch die Darlegungen der DDR-Wissenschaft, die SPD habe die Revolution "verraten", scheinen zwar überwunden zu sein.

Doch die Debatten über "verpasste Chancen" und Überlegungen über einen "dritten Weg" sind nach wie vor präsent. Der Blick weitet sich, sobald man die Geschichte der Weimarer Republik nicht mehr von ihrem Ende her betrachtet - was lange Zeit üblich war und meist dazu führte, den Gründern der Republik in Kenntnis des Aufstiegs der NSDAP, der Hitler-Diktatur und seiner Menschheitsverbrechen zahllose Fehler und falsche Weichenstellungen zu unterstellen.

Inzwischen betonen Historiker eher die Offenheit der historischen Situation und betrachten die Handlungsspielräume der handelnden Personen, die sicher oft größer waren, als diese Menschen damals selbst dachten - aber sie betonten vor allem, vor welchen immensen Aufgaben die Politik in den Wochen zwischen dem November 1918 und dem Zusammentritt der Nationalversammlung Anfang Februar 1919 stand und wie komplex und zum Teil widersprüchlich sich die Realität jeden Tag aufs Neue darbot. Davon soll diese Serie in den kommenden Wochen handeln.

Wenn eine Revolution ein radikaler, gewaltsamer Wandel von Führungseliten, politischer Organisationsform, wirtschaftlich-sozialer Ordnung und Legitimationsideologien ist, dann sieht die deutsche Machtelite seit der Oktoberrevolution 1917 in Russland, was damit gemeint ist: radikale Machteroberung der zunächst kleinen Gruppe der Bolschewiki, brutale Ausschaltung der bisherigen Machtzentren, Tausende Tote, Zarenmord, Enteignung von Großgrundbesitzern und Kirche. Kurzum: Der Westen blickt in den Abgrund. Er sieht Terror, Willkür und Chaos. So etwas will niemand in Deutschland. Und doch ist plötzlich Revolution.

Das Kaiserreich (1871-1918) stirbt den Erschöpfungstod. Wilhelm II. reist aus Berlin ab. Der Aufstand beginnt aber gar nicht in der Hauptstadt, sondern in Wilhelmshaven und Kiel, wo sich zahllose Matrosen weigern, zu einem letzten, sinnlosen Gefecht gegen die Briten auszulaufen. Sie holen "Meuterer" aus dem Gefängnis und stellen moderate politische Forderungen, die Matrosen verbünden sich mit Fabrikarbeitern - sie wollen, dass der Krieg, das Morden, das Leiden endlich aufhört. "Frieden" lautet das Zauberwort. Arbeiter- und Soldatenräte gründen sich, Delegationen reisen durch das Land, das Revolutionsfieber erfasst in den ersten Novembertagen Nord- und Mitteldeutschland. In Bayern stürzt am 7. November die Wittelsbacher-Dynastie nach mehr als 700 Jahren lautlos vom Thron, der sozialistische Politiker Kurt Eisner ruft den Freistaat Bayern aus.

Angeblich hasst der SPD-Vorsitzende Ebert die Revolution "wie die Sünde"

Und dann, am 9. November, wehen rote Fahnen in Berlin. Soldaten und Arbeiter ziehen jubelnd durch die Stadt, der Reichskanzler Max von Baden gibt ohne Autorisierung die Abdankung des Kaisers bekannt und anschließend - ohne rechtliche Grundlage - das Amt des Reichskanzlers an Friedrich Ebert ab. Der SPD-Vorsitzende, der die Revolution angeblich hasst "wie die Sünde", steht nun an deren Spitze. Er will die Ordnung aufrechterhalten, Chaos vermeiden. Als sein Parteifreund Philipp Scheidemann am selben Tag die Republik ausruft, soll Ebert einen Wutanfall bekommen haben. Was aus Deutschland wird, soll eine verfassungsgebende Versammlung entscheiden, sagt Ebert - und sonst niemand. Kontinuität ist ihm wichtiger als Umwälzung.

Es gibt an diesem 9. November keine Gewaltexzesse, es rollen keine Köpfe, die alten Machteliten bleiben auf ihrem Posten und dienen sich der neuen Regierung an. Sozialdemokraten und Zivilisten sollen nun die Katastrophe, in die Kaiser und Militär die Deutschen geführt haben, verantworten. Danach wollte man die Macht wieder an sich reißen, so das Kalkül.

Zwei Tage später, am 11. November, schweigen die Waffen. Severing hat also recht, als er 1928 sagt: "Die Republik war der Friede." Der Weltkrieg ist zu Ende. Das reicht der Masse der Deutschen. Doch der Friede allein macht noch keine Republik.

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Quelle:
SZ vom 27.10.2018/odg/saul
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