Die Sonne ist milchig, heiß wird es heute. Unten spucken Reisebusse Menschen aus, sie ziehen zur Wittenberger Schlosskirche, wo Martin Luther vor bald 500 Jahren seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür geheftet haben soll. Oben auf dem Bunkerberg am Eingang zur Altstadt ist es still. Ausgerechnet das Betonmonster aus der Nazizeit, nach dem Krieg unvollständig gesprengt und unter einem Erdhügel begraben, bringt einem den Himmel näher. "Wie schön, dass Sie gekommen sind", sagt Pfarrerin Gabriele Metzner. Dreißig Frauen und Männer suchen Schatten unter dem Spiegeldach. Der ganze Hügel ist voller Spiegel, man sieht das verzerrte Bild seiner selbst. Eine Pfadfinderin schlägt die Glocke, die Morgengebets-Gemeinde betet das Vaterunser.
Dreißig Beter auf dem Berg sind dem Herrn ein Wohlgefallen - dafür aber, dass sich hier der Weltprotestantismus in einer Weltausstellung präsentiert, beeindruckt die Zahl nicht sehr. "Ich hätte gedacht, dass es voller ist", sagt Frank Patke aus Koblenz. "Es waren schon weniger", sagt Pfarrerin Metzner. "Es waren schon viel weniger", sagt Rudolf Stattaus, der am Fuße des Berges vier Besucher begrüßt, die nach dem Gebet im Zelt des frommen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes vorbeischauen. Derzeit kämen um die hundert Menschen am Tag vorbei; im Juni sei es die Hälfte gewesen. Für Ehrenamtliche wie Stattaus heißt das: Statt einem Zelt voller Neugieriger warten viele Stunden Einsamkeit.
Um halb elf an diesem Morgen gibt es eine Podiumsdiskussion über Familien- und Mütterrollen, immerhin mit Staatssekretär Ralf Kleindiek (SPD) aus dem Bundesfamilienministerium. 20 Menschen kommen in den "Transformationspavillon", der wenig mit Elektrik und viel mit Weltveränderung zu tun haben will. 20 Interessierte, immerhin. Es gab schon Veranstaltungen, da saßen mehr Menschen auf dem Podium als im Zuschauerraum.
Die "Weltausstellung Reformation", eines der ehrgeizigsten Projekte des Reformationsjahres 2017, ist in den Strudel der Negativberichterstattung geraten. Gäste aus aller Welt füllen die Wittenberger Schlosskirche und Luthers Geburtshaus, sie besuchen in Scharen das Wittenberg-Panorama, das der Künstler Yadegar Asisi in großer Liebe zur historisierenden Szene entworfen hat. Doch in die Wallanlagen mit ihren sieben "Toren der Freiheit" zieht es bislang nicht so viele Besucher. Das hat schöne Seiten: Es gibt Zeit für Gespräche und Sitzplätze für Pausen. Andererseits sollte die Ausstellung vom 20. Mai bis zum 10. September nach den selbstbewussten Planungen der evangelischen Kirche auch 500 000 Menschen anziehen, bei insgesamt 25 Millionen Euro Kosten, zur Hälfte finanziert aus Kirchensteuergeld, einem weiteren Drittel aus staatlichen Zuschüssen, dem Rest selbst erwirtschaftet.
"Die Pleite des Jahres" schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anfang Juli. Die Geschäftsstelle des Lutherjahrs rief bald darauf zur Halbzeit-Pressekonferenz und zeigte sich demonstrativ zufrieden: Rechne man zu den bislang 70 000 verkauften Tickets die Besucher des Asisi-Panoramas, zweier Ausstellungen, des Bibelturms am Hauptbahnhof sowie diverser Konzerte dazu, dann komme man auf 200 000 Interessierte zur Halbzeit - alles im Plan. Den schönsten Satz steuerte Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör bei: "Der befürchtete Ansturm ist ausgeblieben", sagte er, als hätten sich finstere Rockergruppen in Wittenberg verabredet.
Ulrich Schneider, der Lutherjahr-Geschäftsführer, ist ein kommunikativer 44-Jähriger mit Dreitagebart und einiger Erfahrung bei der Organisation von evangelischen Kirchentagen. "Wir mussten nachjustieren", gibt er zu, und ja, gerade am Anfang seien die Besucherzahlen hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Aber man habe gelernt. Nun laufen Teams durch die Stadt und werben um Aufmerksamkeit, es gibt Zusatzplakate und Zusatzwegweiser. "Die Weltausstellung nimmt Fahrt auf", sagt Schneider. Jetzt, in der Sommerferienzeit, kämen die Jugendgruppen und Familien, "und es spricht sich herum, dass wir ein tolles Programm haben". Bei den Konzerten würden inzwischen die Plätze knapp. Stolz präsentiert er neue Zahlen: 330 000 Besucher auf der Weltausstellung insgesamt, davon 60 000 Besucher von Großkonzerten - und außerdem wollten 280 000 das Asisi-Panorama sehen "Wir sind im Plan", wiederholt Schneider.
Tatsächlich trifft man in Wittenbergs Wallanlagen vor allem zufriedene Besucher. Die Kunstausstellung "Luther und die Avantgarde" erhält gute Kritiken. Am Schwanenteich haben Studierende der Kunsthochschule Salzburg geflochtene Boote aufs Wasser gesetzt. Mit einigem Aufwand und 20 000 Euro Kosten wurde ein Flüchtlingsboot von Lampedusa nach Wittenberg verfrachtet, ein Wrack, versehen mit der Hinweistafel, dass 244 Menschen auf diesem Seelenverkäufer von Libyen nach Italien fuhren. "Wahnsinn", sagen die Jugendlichen, die vom Ferienlager bei Berlin hierher gefahren sind. Man kann dann weiter flanieren zum Segensroboter der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau: ein Kasten mit weißem Kopf, Drahtarmen und spinnenfingrigen Händen, der auf Wunsch seine Gliedmaßen ausfährt und den Menschen Gottes Beistand wünscht. Ist der Maschinensegen echt? Was heißt das für den Glauben im Zeitalter der Digitalisierung? Manche Leute schimpfen, aber zeitweise muss man anstehen für einen elektrischen Segen.
Alles in Ordnung in Wittenberg? Spricht man mit Insidern, klingt die Analyse nicht nur positiv. Es gab offenkundig handwerkliche Fehler bei der Vermarktung des Events. Bei der erfolgreichen Cranach-Ausstellung in Wittenberg vor zwei Jahren warben Schilder an der Autobahn, sagt Eva Löber, die Geschäftsführerin der Cranach-Stiftung, "das gibt es diesmal nicht". Auf den Weltausstellungs-Plakaten balanciert ein Seehund eine Weltkugel; was das mit Luther und der Reformation zu tun haben soll, bleibt unklar. Es gibt keine Kombi-Tickets, es fehlt ein gemeinsames Stadtführungs-Konzept. Es hat dies alles, so die Kritik, auch mit dem anfänglichen Besserwissertum der Zentrale der evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover zu tun.
"Man kann hier keinen Hundert-Tage-Kirchentag veranstalten", sagt Schorlemmer
Die andere Lesart sieht ein grundsätzliches Problem: Die evangelische Kirche hat sich zum Reformationsjahr in einer Art Theologie der großen Zahl versucht, wonach sich in der Menge der Besucher die Bedeutung der Kirche bemisst. Sie hat sich damit selbst unter Druck gesetzt und am Ende auch selbst überschätzt - erst beim Kirchentag in Berlin und Wittenberg, jetzt auch beim Reformationssommer. "Man kann hier keinen Hundert-Tage-Kirchentag veranstalten", sagt Friedrich Schorlemmer, einst Pfarrer an der Schlosskirche und einer der prominentesten Bürger Wittenbergs, "das überfordert die Besucher."
Trotzdem geht er gerne zur Weltausstellung, "das Kulturangebot sucht seinesgleichen", sagt er und lobt die "wunderbar entspannte Stimmung". So sieht es auch Eva Löber, die Geschäftsführerin der Cranach-Stiftung; fast jeden Abend ist sie unterwegs. Sie sagt: "Wer jetzt nicht kommt, ist selber schuld."