Süddeutsche Zeitung

Welt-Alzheimertag:"Nicht verrückt, sondern potenziell krank"

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Wir müssen reden, lautet das Motto des Welt-Alzheimertages. Demenz-Expertin Sylvia Kern erklärt, warum das gerade für den Busfahrer, den Pfarrer und die Kassiererin gilt.

Interview von Edeltraud Rattenhuber und Rainer Stadler

An diesem Montag ist Welt-Alzheimertag. Wissenschaftler, Ärzte und Betroffenenverbände werben vor allem um Verständnis und Unterstützung für Erkrankte und Angehörige. Der Tag steht unter dem Leitwort "Demenz - Wir müssen reden". Viele Betroffene versteckten sich, weil sie die berechtigte Sorge hätten, ausgegrenzt zu werden. Ein Gespräch mit Sylvia Kern, die dem Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft angehört.

SZ: Frau Kern, wissen die Deutschen genug über Demenz?

Sylvia Kern: Eigentlich müssten alle ein Grundwissen dazu haben. Dem ist natürlich überhaupt nicht so, weil wir Menschen eben so sind, dass wir vor den unangenehmen Dingen des Lebens gern die Augen verschließen. Viele haben außerdem fürchterliche Ängste, dass es sie selber erwischen könnte. Dazu kommen Scham- und Schuldgefühle - Demenz ist immer noch ein Tabuthema.

Was sollten denn die Menschen wissen, auch Jugendliche?

Jugendliche haben ja selbst Großeltern und erleben häufig, dass sich ein Mensch verändert im Alter. Sie sollten wissen, warum sich dieser Mensch so verhält, und wie sie damit umgehen, ohne ihn auszugrenzen oder fallen zu lassen.

Braucht es dafür nicht eher Empathie?

Ja, aber auch das setzt Wissen voraus. Um zu erkennen: da ist jemand nicht verrückt, sondern potenziell krank. Eine Demenz fängt ja nicht von heute auf morgen an. Das ist ein langer, schleichender Prozess. Auch deshalb heißt das Motto, das wir dieses Jahr für den Welt-Alzheimertag gewählt haben: Wir müssen reden.

Mit wem?

Eigentlich mit Allen, aber vorrangig natürlich mit den Menschen, die damit im Alltag zu tun haben. Also auch mit dem Busfahrer, dem Pfarrer, der Kassiererin im Supermarkt.

Wie sprechen Sie die Interessierten an?

Wir bieten zum Beispiel das Konzept der Demenzpartnerschulungen an. Das sind kurze, anschauliche Basisschulungen ohne viel Fachbegriffe. Sie wenden sich etwa an Schulen, Einzelhandel oder Behörden.

Die meisten Demenzkranken werden von Angehörigen gepflegt. Wie können Sie ihnen helfen?

Angehörige kann man mit Fug und Recht als größten Pflegedienst der Nation bezeichnen. Auf ihnen liegt die Hauptlast der Pflege. Nicht umsonst werden sie auch Co-Patienten genannt. Sie brauchen dringend Beratung, Entlastung und Unterstützung. Mittlerweile gibt es sehr viele Betreuungs-, Versorgungs- und Entlastungsangebote - nur leider nicht überall. Und nur die wenigsten Menschen kennen sie, auch dabei helfen wir weiter. Oft hilft es auch schon, mit anderen Menschen in ähnlicher Situation reden zu können. Denn viele Angehörige haben das Gefühl, sie seien ganz allein mit ihrem Leid.

Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit?

Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben. Sie hatte eine mittelgradige Demenz, für die sie übrigens anfangs eine Fehldiagnose bekommen hatte. Sie konnte aber bis zum Schluss noch gut im Betreuten Wohnen leben. Für mich war das Schwierigste, ständig für sie mitdenken zu müssen. Was ist, wenn sie mich nicht erreichen kann? Kann ich in Urlaub gehen? Ich musste unendlich viel organisieren: Klappt alles mit dem Pflegedienst? Neues Rezept für die Ergotherapie. Versicherungsfragen. Schön war aber: Ich konnte mit meiner Mutter bis zum Schluss noch Schubert-Lieder singen und Spanisch sprechen.

Kommt es bei Demenz oft zu Fehldiagnosen?

Immer wieder hören Menschen beim Hausarzt "Was wollen Sie denn? Sie sind doch schon 80." Oder ein 55-Jähriger berichtet dem Arzt, dass er langsam vergesslich wird. Und der Arzt sagt: "Keine Sorge, Demenz beginnt erst über 60." In beiden Fällen erfolgt überhaupt keine Diagnose, die Betroffenen und ihre Angehörigen werden gar nicht erst ernstgenommen. Aber es gibt sehr wohl auch Früherkrankte, die mit deutlich unter 60 an Demenz erkranken. Sie haben zum Teil noch Kinder zuhause, stehen im Berufsleben. Das bedeutet auch wirtschaftlich große Einbußen. Und es gibt eine Menge verschiedener Demenzerkrankungen, das muss differenziert abgeklärt werden.

Und wie war es bei Ihrer Mutter?

Ich war mit ihr beim Neurologen. Er hat einen Verdacht auf Alzheimer festgestellt und ihr ein Medikament verschrieben, das aber nichts nützte. Drei Jahre später kam bei einer anderen Untersuchung im Krankenhaus heraus: Sie hatte gar keinen Alzheimer, sondern einen sogenannten Normaldruckhydrozephalus, also das, was man bei Kindern Wasserkopf nennt. Wäre sie seinerzeit richtig diagnostiziert worden, hätte man die überschüssige Flüssigkeit im Hirn weitgehend ableiten können. Und es wäre meiner Mutter und mir noch lange viel Leid erspart geblieben.

Erst kürzlich wurde eine Nationale Demenzstrategie verabschiedet mit vier Handlungsfeldern und Dutzenden von Zielen. Bringt das etwas?

Ja, wenn es nicht beim Papier bleibt, die Dinge nicht in der Schublade verschwinden, sondern möglichst viel konkret umgesetzt wird. Und natürlich muss man dann auch Geld in die Hand nehmen.

Welche Ziele zu erreichen wäre Ihnen denn am Wichtigsten?

Am Wichtigsten sind mir die Unterstützung für Erkrankte und ihre Angehörigen und die medizinisch-pflegerische Versorgung. Und dass die Menschen erkennen, dass das Thema Demenz uns vermutlich alle in irgendeiner Form treffen wird. Das heißt für uns als Gesellschaft, den Stier bei den Hörnern zu packen und Strukturen zu schaffen, wo Menschen lange vor Ort leben können, akzeptiert sind und so lange es geht doch noch in ihrem Chor mitsingen können, im Sportverein bleiben können.

Und wenn man doch ins Heim muss?

Man kann heutzutage wirklich nicht mehr sagen, dass Heime auf Demenzkranke nicht eingestellt sind, denn 80 Prozent der Heimbewohner sind Menschen mit Demenz. Es gibt Heime, da wird wunderbare Arbeit gemacht, und es gibt Heime, vor denen es einen graust. Und es gibt alles dazwischen. Am wichtigsten sind die Haltung und der Geist in den Einrichtungen, aber natürlich braucht es auch eine gute personelle Ausstattung.

Ist Demenz eigentlich nur ein trauriges Thema?

Wenn Sie in gut geführte Heime, ambulant betreute Wohngemeinschaften, Tagespflegen oder Betreuungsgruppen schauen, dann erleben Sie da auch ganz viel Lachen und Freude. Menschen mit Demenz können ja auch sehr unverblümt und direkt sein und es gibt diesen schönen Satz: Das Herz wird nicht dement, Menschen mit Demenz sind bis zuletzt über Gefühle erreichbar.

Unter Corona gab es Besuchsverbote in vielen Pflegeheimen, die sich auf die Bewohner sehr negativ ausgewirkt haben. Dabei ist der Kontakt zu den Angehörigen ganz wichtig. Hätten die Heime anders reagieren müssen?

Ich bin immer ein bisschen kritisch beim Thema Kontakt zu Angehörigen. Wenn ich in Heimen frage, wie viele ihrer Bewohner regelmäßig Besuch kriegen, höre ich in der Regel: Maximal 25 Prozent. Eine wirklich fürchterliche Zahl. Und natürlich: Menschen mit einer Demenz brauchen alle diese weichen Dinge wie Gefühle, Vertrautheit, Kontinuität, Wärme. Darauf sind sie wirklich unendlich angewiesen. Wenn sie das nicht haben, fühlen sie sich noch verunsicherter, noch bedrohter und verhalten sich entsprechend. Und dann kommen die Vorschriften hinzu: Maske beim Personal, Abstands- und Besuchsregeln. Das können Sie einem fortgeschrittenen Demenzkranken überhaupt nicht erklären.

Haben Sie die Sorge, dass die Heime bei einer zweiten Welle wieder geschlossen werden?

Ich glaube, dass man da, wo man offene Ohren und Augen hatte, viel dazugelernt hat. Wie gehen wir um mit dem Thema Maske, dass jemand nicht so erschrickt? Wie können wir Strukturen schaffen, dass wir trotzdem gut unsere Arbeit machen können? Es wird nicht mehr ganz so hart kommen wie beim ersten Mal.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2020
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