Weizsäcker wird 90:Erster Bürger seines Staates

Eloquent, unabhängig, elitär: Richard von Weizsäcker ist noch immer der beliebteste Bundespräsident der Deutschen - eine Würdigung zum 90. Geburtstag

Franziska Augstein

Es war eine Köpenickiade von besonderer Art: Einen Tag nach der Maueröffnung 1989 überquerte Richard von Weizsäcker zu Fuß den Potsdamer Platz in Richtung DDR. Er bemerkte, dass DDR-Grenzer ihn durch ein Fernglas beobachteten, und war neugierig, was nun wohl geschehen werde.

In seinen Erinnerungen schrieb er: "Dann löste sich der Kommandoführer, ein Oberstleutnant, von seinem Trupp, ging auf mich zu, machte eine korrekte Ehrenbezeugung und sagte in ruhigem Ton: 'Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse.'"'

Präsident aller Deutschen

Zu dem Zeitpunkt war Weizsäcker aber gar nicht Bundespräsident der Ostdeutschen, das wurde er erst mit der Vereinigung. Dass er schon zuvor durch ein stillschweigendes Plebiszit zum Präsidenten aller Deutschen gemacht wurde, hatte er - anders als der Hauptmann von Köpenick - nicht dem Rock zu danken, den er trug, sondern - darin glich er dem Hauptmann von Köpenick - seinem überzeugenden Auftreten.

Egon Bahr schrieb später, es sei "die größte Auszeichnung" gewesen, die Weizsäcker "unverliehen erhalten hat". Unverliehen, aber nicht unverdient. Seit 1984 hatte er den Bundespräsidenten so überzeugend dargestellt, dass es 1989 undenkbar schien, einen anderen an seine Stelle zu setzen.

Der Sohn des Diplomaten Ernst von Weizsäcker lernte im Hause seiner Eltern gute Manieren, Selbstkontrolle und Zurückhaltung, er lernte, dass ein Mann von Welt sich in kulturellen Dingen auszukennen hat und dass er nicht aus jedem Disput als Sieger hervorgehen muss.

Als Soldat im Zweiten Weltkrieg

Und er lernte auch , dass man mitunter einen Gegner in seiner eigenen Ignoranz versauern lassen kann: Missbilligendes Verstummen ist eine schärfere Waffe als Eloquenz. Verbindlichkeit hingegen ist die Form, mit der man sich Freunde schafft, ohne sich zu ihnen bekennen zu müssen.

Weizsäcker wurde, mit den Worten des Journalisten Jürgen Leinemann ausgedrückt, dazu erzogen, "sich das Leben aufs gediegenste vom Leibe zu halten". Wer das vermag, erfüllt eine wichtige Voraussetzung für ein repräsentatives Amt, in dem subjektive Ansichten oder gar Ausbrüche nicht gefragt sind.

Den Zweiten Weltkrieg hat er vom ersten Tag an mitgemacht. Als Soldat des überwiegend aus dem Adel bestückten Potsdamer Infanterie-Regiments 9, aus dem die Attentäter des 20. Juli hervorgingen, marschierte er am 1. September 1939 in Polen ein.

Kummer über den gefallen Bruder

Einen Tag später fiel sein älterer Bruder Heinrich. Der Kummer über dessen Tod hat Weizsäcker seither begleitet; als Soldat betrachtete er das freilich als eine Privatangelegenheit, die seinen Pflichten nicht in die Quere kommen durfte. Er hat später nicht versucht, sich zu einem Skeptiker der ersten Stunde zu stilisieren. Im Gegenteil: "Wir jungen Soldaten", schrieb er, "verstanden das wenigste und glaubten das meiste."

Im Lauf des Krieges fühlten die "Neuner" sich zunehmend vom Oberkommando der Wehrmacht für falsche Zwecke missbraucht. Obgleich Weizsäcker selbst nicht zu den Widerständlern gehörte, konnte er sich doch nach Kriegsende sagen, auf der richtigen Seite gestanden zu haben.

Lesen Sie auf Seite 2, wie RIchard von Weizsäcker damit umging, dass sein Vater mit dem Regime Hitlers kollaboriert hatte.

Verteidiger des eigenen Vaters

In Begleitung seines Busenfreundes Axel von dem Bussche, der Hitler umzubringen getrachtet hatte, fuhr Weizsäcker 1945 nach Nürnberg: Man wollte sich die Kriegsverbrecherprozesse aus der Nähe ansehen. Die deutsche Barbarei, das industriemäßige Massenmorden, war den zwei jungen Männern nun bekannt.

Und doch hatten sie kein Verständnis dafür, dass die Alliierten es nicht den Deutschen überließen, über die Verantwortlichen zu Gericht zu sitzen. Anmaßend und unfair fanden sie die Auffassung der Alliierten, die deutsche Bevölkerung müsse in toto einer "Reeducation" unterzogen werden. Dass die Alliierten viele deutsche Emigranten mit wichtigen Posten betraut hatten, schien den jungen Männern nicht der Rede wert.

"Die raus, wir rein!"

Vor dem Nürnberger Gerichtsgebäude angekommen, sahen Weizsäcker und Bussche zwei amerikanische Panzer und befanden: "Die raus, wir rein!" Der Satz ähnelt Gerhard Schröders berühmtem Ausruf vor dem Bundeskanzleramt: "Ich will da rein!" Richard von Weizsäcker war mit einem guten Ego ausgestattet, nur dass er erst noch lernen sollte, es vollendet zu moderieren.

1947 wurde Ernst von Weizsäcker in Nürnberg angeklagt, sein Sohn, der nun Jura studierte, stand ihm als Hilfsverteidiger bei. Der Vater, bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt, hatte vom Massenmorden gewusst, er hatte Deportationsbefehle unterzeichnet, bis zum Ende hatte er für Hitlers Regime gearbeitet - und das, obwohl er eigentlich gegen Hitlers Politik war.

Warum kollabierte sein Vater mit dem Regime?

Als Verteidiger seines Vaters wird Weizsäcker erlebt haben, dass seine Erziehung im Elternhaus nicht ganz vollständig gewesen war: Der Vater war mundfaul vor Gericht. Scham und Stolz zugleich bewogen ihn, auch jene Aussagen nicht zu machen, die für ihn gesprochen hätten. Spätestens da dürfte Richard von Weizsäcker begriffen haben, dass man reden können muss, wenn man verstanden werden will.

Kontakte seiner Eltern ermöglichten Weizsäcker eine erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft. Als das Fundament für das Auskommen seiner eigenen Familie gelegt war, hatte er den Geist frei für Dinge, die ihn innerlich beschäftigten. Sein Vater hatte wider besseres Wissen mit dem Regime kollaboriert - warum?

Weizsäcker ist der Meinung, sein Vater sei zu Unrecht verurteilt worden. Insofern er schuldig war, denkt der Sohn, sei es eine ganze gesellschaftliche Klasse gewesen, die sich schuldig gemacht hatte, indem sie einen falschen Nationalismus vertrat und die Demokratie der Weimarer Republik nicht ernst nahm. Das musste in der neuen Bundesrepublik anders werden. 1962 exponierte Weizsäcker sich mit einer damals mutigen Meinung: Die Bundesrepublik, schrieb er in einem Zeitungsartikel, müsse die Oder-Neiße-Grenze zu Polen endlich anerkennen.

Die politische Heimat in der evangelischen Kirche gefunden

Damals engagierte er sich in der evangelischen Kirche, vor allem in der "Kammer für öffentliche Verantwortung". Das sei, sagte er der Süddeutschen Zeitung, "ein etwas anspruchsvoller Titel für die Beschäftigung mit der Frage, inwieweit man die Verantwortungsfragen der Öffentlichkeit mit dem eigenen Glauben oder der eigenen Kirche verbindet".

Weizsäcker, der in einem evangelischen Haushalt herangewachsen war, jedoch, wie er sagt, "ohne ausgeprägte Kennzeichen praktizierter Frömmigkeit", fand in der evangelischen Kirche, was er seine "politische Heimat" nennt. Darin erblickt er einen entscheidenden Unterschied zwischen sich und Helmut Kohl, der in der CDU eine Heimat gefunden habe, "die über seine politischen Ziele hinausging".

Lesen Sie auf Seite 3, warum Wezisäcker der beliebteste Präsident der Deutschen ist.

Er hat den Menschen aus der Seele gesprochen

In der berühmten "Stuttgarter Erklärung" vom 19. Oktober 1945 hatte die evangelische Kirche bekannt: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Bescheiden-versachlicht, dies war der Tonfall, den Weizsäcker in der Kammer für öffentliche Verantwortung und dann als Präsident des Kirchentages und Mitglied der Synode der EKD erlernte. Bei der evangelischen Kirche fand er die Worte, über die deutsche Schuld und indirekt seinen Vater zu reden - und damit alle Menschen anzusprechen. Das kam ihm als CDU-Politiker zustatten. Richard von Weizsäckers Lebensbildung für das Amt des Bundespräsidenten war Mitte der sechziger Jahre abgeschlossen.

Mit grandioser Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt

So wie Predigten dazu da sind, den Menschen nahezubringen, was sie doch selbst schon fühlen und wissen sollten, war auch Weizsäckers Rede 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes angelegt: Ja, die Deutschen hatten im Krieg gelitten. Aber vor allem hatte Deutschland Unglück und Tod über Millionen gebracht.

1984 war er mit grandioser Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt worden. Mochten auch manche Deutsche seine Rede von 1985 für die Weisheit der Binse halten, war sie doch perfekt. Weizsäcker wusste selbst, dass er nichts "Neues" gesagt hatte, stolz war und ist er vor allem auf die gute Resonanz im Ausland.

Als Bundespräsident und Präsident a. D. hat er vielen Menschen aus der Seele gesprochen. Auch im Gedenken an die Geschichte seines Vaters hat er nicht den Stab über andere gebrochen, die sich während des Weltkriegs in politisch bedrängter Lage befanden.

Kohls Versprechen fand er verheerend

Weizsäcker hat Herbert Wehner zum Beispiel, der auf der Flucht vor den Nazis im Gewahrsam Stalins gewesen war, in seinen Erinnerungen als einen "dünnhäutigen, um seiner schwer durchschaubaren Vergangenheit willen lebenslang verletzlichen Mann" charakterisiert. Dass Weizsäcker den sozialdemokratischen Bundestagspolterer Wehner so wahrnahm, zeugt von seiner eigenen Sensibilität.

Nach dem Fall der Mauer war Weizsäcker in Sorge: Verheerend fand er Kohls falsche Versprechung, die Vereinigung werde die Westdeutschen nichts kosten. "Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei: sich zu vereinen heißt teilen lernen", sagte er damals.

Viel Anklang fand seine Kritik an der deutschen Parteiendemokratie: Er warnte vor der Gepflogenheit, "die mit der Kraft eines Unkrauts herangewachsen ist, nämlich sich schon beinahe von der zehnten Schulklasse an die Politik zum Lebensberuf zu wählen, und zwar auf den Himmelsleitern der Parteien".

Friedrich II als Vorbild

Was die Außenpolitik angeht, sein eigentliches Feld, hat Weizsäcker sowohl Ronald Reagan als auch George W. Bush mit Skepsis betrachtet: Wer meint, er könne die Welt sauber in Gute und Böse einteilen, ist ihm suspekt. Selbstgerechtigkeit ist die Eigenschaft, die ihm bei Personen des öffentlichen Lebens am allerwenigsten gefällt.

Seinem demokratischen Selbstverständnis zum Trotz denkt der Politiker Weizsäcker durchaus elitär. Anders als der sozialdemokratische Bundespräsident Gustav Heinemann beruft er sich nicht auf deutsche Politiker des Vormärz. Er bewundert Friedrich II. Mit einem Zitat des Preußenkönigs hat er auch seine Haltung zur Einwanderungspolitik begründet: "Wenn Mohammedaner kommen, werden wir ihnen Moscheen bauen. Das war noch ein Ausspruch vom alten Fritz", schreibt er in seinen Erinnerungen.

Richard von Weizsäcker war der beliebteste Bundespräsident der Deutschen. Jetzt, da er seinen 90.Geburtstag feiert, ist er es immer noch.

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