Süddeutsche Zeitung

Weißrussland:Minsker Balance-Akt

Die Beziehungen zum Westen waren lange schlecht. Seit es aber knirscht im Verhältnis zum großen Bruder Russland, verortet sich das Land neu - außenpolitisch, aber auch im Inneren.

Von Frank Nienhuysen, Minsk

Vier Präsidentenbeine baumelten neulich entspannt aus dem Sessellift, Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko waren in Sotschi beim Skifahren. Noch bevor der weißrussische Präsident in den russischen Winter abgereist war, hatte er bereits eine Botschaft gesandt, die versöhnlich und ewig klingen sollte: Weißrussland werde "niemals schlechten Wodka oder schlechte Snacks nach Russland schicken", was auch immer es für Konflikte gebe.

Vor wenigen Tagen ein ähnliches Signal, diesmal an Brüssel: Weißrussland werde für die Europäische Union immer "ein zuverlässiger Partner sein", selbst wenn es Probleme gab und wieder geben werde, sagte Lukaschenko. Zu Gast in Minsk war EU-Kommissar Günther Oettinger. Moskau, Brüssel, dazu die USA - Lukaschenko betreibt gerade eine Balance-Politik, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war, das Verhältnis zwischen Weißrussland und dem Westen war zerrüttet und geprägt von Sanktionen.

Eine Äußerung Medwedjews alarmierte die Weißrussen: Droht etwa eine Angliederung?

Seit der russischen Annexion der Krim aber nimmt sich Weißrussland außenpolitisch mehr Freiheiten und sucht verstärkt die Nähe zum Westen. Vor allem in den vergangenen Monaten haben sich die kritischen Töne in Richtung Moskau und die sanften in Richtung Brüssel und Washington gehäuft. Anlass ist ein Energiedeal, über den die beiden Bruderstaaten derzeit verhandeln. Aber es geht um mehr als ums Geschäft. Russland hat beschlossen, die Ölförderung im eigenen Land stark zu besteuern und die neuen Abgaben auf seine Abnehmer umzuleiten. Für Weißrussland ist das eine schlechte Nachricht, denn der kleinere Nachbar lebt bisher gut davon, dass er Energie aus Russland günstig einkauft, verarbeitet und weiter verkauft. Bis zu zehn Milliarden Euro Verlust drohen dem Land nun bis zum Jahr 2024. Minsk fordert deshalb von Russland Ausgleichszahlungen, zu denen Moskau jedoch nicht ohne weiteres bereit ist.

Feilschen um Geld kommt in den besten Beziehungen vor, alarmierend war für Weißrussland allerdings eine Bemerkung des russischen Premiers Dmitrij Medwedjew. Der forderte als Entgegenkommen eine stärkere Integration beider Länder. Eine Vereinigung? Angliederung gar? Seit Ende der Neunzigerjahre gibt es auf dem Papier einen Unionsvertrag, der unter anderem eine gemeinsame Währung, Flagge und eine vereinheitlichte Justiz vorsieht. Bisher war es eine politische Hülle gewesen, mehr Symbolik aus der fernen Jelzin-Epoche als aktuell bedeutsam. Doch seit Medwedjews Äußerung kursieren Gerüchte, dass der gemeinsame Unionsstaat aus russischer Sicht die Lösung sein könnte, um Präsident Putin nach dem Ende seiner Amtszeit 2024 im Kreml zu halten: als Anführer eines russisch-weißrussischen Staates.

Der Kreml erklärte zwar, eine Angliederung sei überhaupt nicht geplant. Aber Lukaschenko nutzt nun jede Gelegenheit, um die Souveränität seines Landes zu betonen. Die frischeste ist von diesem Freitag: Würde heute ein Referendum abgehalten, sagte Lukaschenko bei einer Pressekonferenz in Minsk, würden 98 Prozent der Weißrussen gegen eine Vereinigung der beiden Länder stimmen, "oder gegen das, was viele Russen als einen Anschluss Weißrusslands an Russland ansehen". Die Weißrussen wollten zwar "mit Russland zusammensein, aber sie wollten in ihrem eigenen Heim leben", sagte Lukaschenko. Im Januar hatte er Moskau daran erinnert, dass es die Wahl habe, ob es "seinen einzigen Verbündeten in westlicher Richtung" verlieren wolle.

So weit dürfte es nicht kommen, aber von der Abhängigkeit will sich Weißrussland befreien. China ist bereits einer der wichtigsten Investoren, Hotels in Minsk heißen am Eingang auf Schildern chinesische Gäste willkommen, Speisekarten sind auch auf Chinesisch verfasst. Recht entspannt ist aber vor allem das Verhältnis zum Westen. Der US-Regierung bot Minsk an, die Zahl ihrer Diplomaten zu erhöhen. Als vor drei Wochen in Minsk eine Buchmesse stattfand, sollten die USA sogar als Gastland im Zentrum stehen. Nur der Shutdown verhinderte die Anreise der amerikanischen Delegation. Russland sprang dann gerne ein.

Dass Weißrussland sich Luft verschaffen will, spürt auch die EU. Die Zahl der europäischen Besuche in Minsk ist so hoch wie seit Jahren nicht; gerade wird in letzten Zügen über eine Visa-Erleichterung für Weißrussen verhandelt, nachdem EU-Bürger schon visafrei nach Minsk fliegen dürfen. Es gibt regelmäßige Treffen der EU mit der weißrussischen Zivilgesellschaft, und beim Thema Menschenrechte freut sich Brüssel über den kleinen Fortschritt, dass inzwischen darüber überhaupt geredet wird. Läuft alles etwas besser, nur weil zwischen Minsk und Moskau das Misstrauen wächst? "Die Zusammenarbeit der EU ist nie gegen dritte Staaten gerichtet", sagt in Minsk die Leiterin der EU-Delegation, Andrea Wiktorin. Und sie ist überzeugt, "dass sich die Beziehungen weiter stabilisieren werden".

Wie sehr das Thema nationale Souveränität Weißrussland umtreibt, ist in der Hauptstadt zunehmend ablesbar. "Souveränität - das ist die Ehre und Würde eines Volkes", heißt das Titelzitat in einer Ausgabe von Wetschernij Minsk. In einer Buchhandlung auf dem zentralen Stadtboulevard sagt die Verkäuferin Irina, dass immer mehr Bücher in weißrussischer Sprache angeboten werden. Lange hatte der sowjetisch geprägte Lukaschenko hinter dem künstlerischen Gebrauch der weißrussischen Sprache nationalistische und Freiheit suchende Regierungskritiker gewittert. Und nun: Stehen im Regal weißrussische Übersetzungen von Manns "Tod in Venedig", Süßkinds "Kontrabass". "Hier", sagt die Verkäuferin, "diesen Band über die Geschichte Weißrusslands hätte es noch vor drei Jahren nicht gegeben."

Einen Kilometer entfernt, im fünften Stock eines Bürohochhauses, bietet Andrej Dynko Kaffee an. Er ist Chefredakteur eines Hochglanzmagazins, das Sinnbild ist für das neue Nationalbewusstsein, den größeren Spielraum der Zivilgesellschaft. Nascha Gistoryja, Unsere Geschichte, heißt die Zeitschrift, die erst seit kurzem existiert. Sie ist ein nicht-staatliches Magazin - und schwer erkämpft. "Ein halbes Jahr haben wir gebraucht, bis wir beim Ministerium registriert wurden", sagt Dynko. "Aber vor ein paar Jahren hätten wir es gar nicht geschafft."

Es ist kein radikales Heft, immerhin riskiert es auch kritische Blicke auf das eigene Land, als es noch Teil der Sowjetunion war. "Offiziell wird die Sowjetzeit idealisiert", sagt Dynko. Die 2000 Exemplare der ersten Ausgabe waren innerhalb von drei Tagen verkauft, dreimal wurde nachgedruckt, jetzt liegt die verkaufte Auflage bei 7000. "Für ein neues Magazin, und das auch noch in weißrussischer Sprache, ist das viel", sagt Dynko. "Das Interesse zeigt, wie sehr die nationale Identität und unsere Zivilgesellschaft wächst. Wir leben ja noch immer in einer Gesellschaft, die von der russischen Sprache dominiert ist". Der Erfolg müsste eigentlich auch der Führung gefallen, "theoretisch", sagt Dynko. "Aber wir sind eine unabhängige Initiative. Und die Philosophie des Staates ist, dass er selber kontrolliert."

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SZ vom 02.03.2019
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