Süddeutsche Zeitung

Weihnachten:Politische Weihnachten: Keule, Brust, Pegida

Die Flüchtlingskrise macht das Politische privat - und umgekehrt. Unterm Tannenbaum gibt es diesmal nicht bloß Geschenke: Die Deutschen erleben das politischste Weihnachtsfest seit vielen Jahren.

Kommentar von Nico Fried

Als die Heiligen Drei Könige einst im Stall zu Bethlehem das Kind aufsuchten, brachten sie wertvolle Gaben mit: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Die 800 000 Nachfahren der Weisen aus dem Morgenland, die in diesem Jahr in Deutschland Zuflucht suchten, kamen in aller Regel mit leeren Händen und sind auf Hilfe angewiesen. Gleichwohl bescheren sie ihre Gastgeber mit einem ideellen Geschenk, das sich während der feiertäglichen Familientreffen von ganz alleine auspacken wird: Die Deutschen erleben das politischste Weihnachtsfest seit vielen Jahren.

Es waren zuletzt wohl Mauerfall und deutsche Einheit, die sich in solcher Breite in den gesellschaftlichen Diskurs drängten wie der Flüchtlingszuzug. Lange nicht mehr hat ein politisches Thema viele Gemüter so aufgewühlt und viele Diskussionen so dominiert. So wie vor 25 Jahren parallel zu Helmut Kohls Alleingang zur Vereinigung fast jeder seine private Version der Einheit erlebte, so debattieren die Deutschen 2015 nicht nur über den Flüchtlingsstrom, und ob Frau Merkel nun spinnt oder nicht. Sie reden auch über die Verhältnisse im benachbarten Aufnahmelager, über den syrischen Lehrling im Betrieb oder über das Mädchen in der Schule, das vor dem Unterricht zur Abschiebung geholt wurde. In diesem Jahr politisieren auch Menschen, die sonst von sich sagen würden, Politik interessiere sie nicht.

Die politische Wirklichkeit verändert dieses Weihnachtsfest. Die Geschichte einer kleinen Familie auf der Suche nach einer Herberge, die sonst vor allem die Spannung der Kinder vor dem Auspacken der Geschenke steigern soll, weckt in diesem Jahr unmittelbare Assoziationen, zum Beispiel zur Balkanroute. Und der wichtigste Überwindungskampf mit dem eigenen Ich wird 2015 nicht über die Frage ausgetragen, ob man mit vollem Bauch noch in die Christmette ächzt, sondern ob man an den Feiertagen eine syrische Familie zur Weihnachtsgans einlädt. Oder wenigstens etwas Spielzeug ins überfüllte Flüchtlingslager bringt.

Weihnachten ist für Familien wie Parteitage für Parteien

Weihnachten ist in vielen Familien für gewöhnlich das, was für Parteien die Parteitage sind: die große alljährliche Zusammenkunft. Wie in der Politik auch, sind diese Feiertage bisweilen bestimmt von Heuchelei, taktischen Rücksichten oder über die Jahre entstandener Genervtheit. 2015 aber hat es womöglich eine ganz andere Dynamik, wenn der als Kind aus Ostpreußen vertriebene Opa wieder vom Krieg erzählt, weil Enkel, die heute Flüchtlinge in Willkommensklassen erleben, sich plötzlich dafür interessieren könnten, von wo ihre eigene Familie fliehen musste.

Die Flüchtlingskrise macht das Politische privat und umgekehrt. Im Idealfall ergänzen sich Erlebnisse mehrerer Generationen. Und wo es doch den unvermeidlichen Zoff geben muss, lohnt der Streit über Pegida mehr als darüber, wer Keule bekommt und wer Brust. Es ist ein Geschenk für die Gesellschaft, wenn Bürger die res publica, die öffentliche Sache, zu ihrem Thema machen, auch kontrovers. Zu viel stille Nacht schadet der Demokratie.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2015/dayk
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