Wehrpflicht für orthodoxe Juden in Israel:Armee der Gottesfürchtigen

Sie wollen dem Land mit ihren Gebeten statt mit Waffen dienen und lieber ihrem Rabbi gehorchen als einem Offizier. Doch nun hat das Oberste Gericht verfügt, dass auch ultra-orthodoxe Juden Wehrdienst zu leisten haben - erstmals in der Geschichte Israels. Die Fronten zwischen säkulären und staatlichen Kräften sind verhärtet.

Peter Münch, Jerusalem

Mit schweren Büchern unter dem Arm streben die Männer durch die Straßen von Mea Schearim, einem der ältesten Viertel Jerusalems. Die Frauen mögen gemächlich ihre Kinderwagen schieben, die Einkäufe erledigen und sich hier und da zu einem Schwatz versammeln - die schwarzberockten Herren haben dafür keine Zeit.

Ultra Orthodox Jews pray at the Western Wall

Ultra-orthodoxe Juden an der Klagemauer in Jerusalem.

(Foto: dpa)

Als seien sie beständig auf der Flucht, eilen sie zu ihrer Jeschiwa, der Religionsschule, in der sie sich tagaus, tagein und manchmal auch bei Nacht dem Thora- und Talmudstudium widmen. Die Welt da draußen, feindlich und verdorben, interessiert Israels Ultra-Orthodoxe wenig. "Wir wollen uns nicht vermischen", sagt Moses Rosenberg. Doch die Mauern des frommen Refugiums geraten gerade ins Wanken. Denn von fern ist plötzlich der donnernde Ruf des Vaterlands zu hören.

Zum ersten Mal in Israels Geschichte nämlich könnten nun auch die Haredim, die Gottesfürchtigen, zur Armee einberufen werden. Ein Gesetz, das sie bislang vom Wehrdienst freigestellt hatte, wenn sie in einer Religionsschule studierten, wurde im Februar vom Obersten Gerichtshof als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz verworfen. Die Richter hatten dabei auch die demografische Entwicklung im Blick. Derzeit stellen die Haredim knapp zehn Prozent der Bevölkerung, doch wegen ihres sagenhaften Kinderreichtums sind sie die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Israel.

Den Politikern gab das Gericht Zeit bis zum 1. August für eine Neuregelung zur allgemeinen Wehrpflicht. Diese Zeit haben sie nur genutzt für Streitereien und Ränkespiele. Eine Kommission, die von Premierminister Benjamin Netanjahu im Frühjahr beauftragt worden war, einen entsprechenden Gesetzentwurf auszuarbeiten, wurde im Juli aufgelöst, bevor sie ihren Entwurf vorlegen konnte.

Und die große Koalition unter Einbeziehung der Kadima-Partei, die im Mai just zur Durchsetzung der Wehrreform gebildet worden war, zerbrach vor zwei Wochen im Streit um die Neuregelung. Also gilt nun allgemein wieder das "Verteidigungsdienst-Gesetz" von 1948, demzufolge jeder Ultra-Orthodoxe im wehrfähigen Alter mit einem Einberufungsbescheid rechnen muss. Wer sich verweigert, dem droht eine Gefängnisstrafe.

Die Armee müsste 60.000 Orthodoxe integrieren

Moses Rosenberg aber zeigt auf seine Schläfenlocken, auf die lange schwarze Jacke, die er auch bei 37 Grad im Schatten trägt, und auf die Zizijot, die darunter hervorlugenden weißen Fransen, die ihn an die Einhaltung der 613 Ge- und Verbote erinnern - und er sagt: "Die Armee ist kein Platz für religiöse Menschen." Vor fünf Jahren war er aus London ins Gelobte Land gekommen, da war er 16 und nahm die Studien auf in der Jeschiwa Mir, die mit 7000 Studenten die größte Religionsschule in Jerusalem ist.

Mit ein paar anderen steht er draußen vor dem Tor, drinnen hatte die Jeschiwa-Leitung jeden offiziellen Kommentar zum Thema verweigert mit der Begründung, "wir reden nicht darüber, das ist unsere Politik seit vielen Jahren". Für Rosenberg und seine Mitschüler aber ist der drohende Armeedienst ein Thema, über das sie viel sprechen in diesen Tagen, weil es Unsicherheiten auslöst und Abwehrreaktionen fordert. "Die brauchen uns doch gar nicht in der Armee", sagt er, "die Haredim würden dort doch nur Probleme machen."

Mag sein, dass er recht hat, denn die Einberufung der Ultra-Orthodoxen in großer Zahl wäre eine enorme Herausforderung für die israelischen Streitkräfte, die als Bastion des säkularen Staates und als Schmelztiegel gelten. Männer müssen für drei Jahren dienen, Frauen für zwei - und sie dienen Seite an Seite, was allein schon für die Strengreligiösen undenkbar ist. Zudem reicht ihnen die grundsätzlich koschere Küche der Armee nicht, weil sie noch strengere Regeln befolgen müssen für "glatt koscheres Essen".

Kluft zwischen Staat und Religion

Und über allem schwebt die Frage, wem ultra-orthodoxe Soldaten im Zweifelsfall folgen würden: dem vorgesetzten Offizier oder dem verehrten Rabbiner? Zwar gibt es bereits Freiwillige, die in einem eigenen Haredim-Bataillon dienen oder eine kombinierte Armeezeit aus Wehrdienst und Thorastudium ableisten. Doch viel mehr als 2000 Soldaten sind das nicht. Eine Zahl von etwa 60.000 Haredim jedoch, die derzeit in Religionsschulen eingeschrieben sind, würde zu einer Zweiteilung der Armee führen.

Dieser Streit berührt die Grundlagen des jüdischen Staates, und er befeuert den Konflikt zwischen den säkularen und den religiösen Kräften. Für dieses Wochenende planen die Befürworter einer Einberufung aller Wehrfähigen wieder einen Massenprotest in Tel Aviv. Und in der Jeschiwa Or Hachaim (Licht des Lebens) haben die Rabbiner alle 300 Schüler aufgerufen, nicht in die dreiwöchigen Sommerferien zu gehen, sondern weiter zu studieren und zu beten, auf dass der Herr ein Wunder geschehen und allen politischen Druck von ihnen abfallen lasse.

Schimon Cohen ist dem Ruf der Rabbis gefolgt und in der Jeschiwa geblieben. Er ist ein schüchtern lächelnder Junge, 16 Jahre alt und damit genau in jenem Alter, in dem junge Israelis erstmals erfasst werden für die Wehrdiensttauglichkeit. Er aber hat vor einem Jahr mit den Thorastudien begonnen. An die Armee möchte er keinen Gedanken verschwenden. "Ich mache, was der Rabbi mir sagt", erklärt er, "und der Rabbi sagt, wer den ganzen Tag lernt, soll nicht zum Militär gehen."

Verteidigungsminister Barak verlangt binnen 30 Tagen einen Plan

Die Rabbiner sind die treibenden Kräfte in diesem Abwehrkampf gegen die Armee, als ihr verlängerter Arm agieren die religiösen Parteien in Parlament und Regierung, die nicht nur Netanjahu unverhohlen mit Koalitionsbruch drohen, sondern gleich den Untergang an die Wand malen. "Das jüdische Volk hat 3300 Jahre überlebt, weil es die Thora studiert hat", sagt Rabbi Schimon Hurwitz aus Mea Schearim. "Vielleicht hat uns die Thora auch in den vergangenen 64 Jahren die Siege gebracht."

Zur Verteidigung des Landes gegen all die Feinde ringsum zählen für ihn die Gebete mindestens so viel wie die ausgeklügeltsten Waffensysteme. Die Entscheidung des Obersten Gerichts nennt er einen "fatalen Fehler". Denn die Richter hätten "die Bedeutung der jüdischen Moral nicht verstanden", die allein aus dem Gottes- und nicht aus dem Militärdienst erwachse, klagt er.

Die Fronten sind verhärtet, eine Lösung ist nicht in Sicht. Verteidigungsminister Ehud Barak hat in dieser Woche den Befehl gegeben, binnen 30 Tagen einen Plan vorzulegen, wo die Haredim sinnvoll im Wehrdienst eingesetzt werden könnten. Dies verschafft ihm vor allem Zeitgewinn. Das Parlament hat sich in die Sommerferien verabschiedet, wenn es im Herbst zurückkehrt, könnte gleich der Wahlkampf beginnen.

Derweil setzt Rabbi Hurwitz darauf, dass die Politiker zur höheren Einsicht gelangen. "Wenn die Säkularen denken, die Religiösen drücken sich und gehen den leichten Weg, warum kommen sie dann nicht auch in eine Jeschiwa und umgehen so die Armee?", fragt er. Die Antwort gibt er selbst: "Die größere Last", so sagt er, "liegt nämlich auf der religiösen Seite."

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