Der erste deutsche Bundespräsident, Theodor Heuss (FDP), hat die Wehrpflicht einmal als "legitimes Kind der Demokratie" bezeichnet. Und dieses Kind wird nun von nicht wenigen Bundespolitikern schmerzlich vermisst. Seit 2011 ist die Wehrpflicht ausgesetzt, die Bundeswehr eine Berufsarmee. Als gewichtigste Berliner Stimme hat Verteidigungsminister Boris Pistorius diesen Schritt nun als "einen Fehler" bezeichnet.
In Politik und Militär gibt es ohnehin noch erhebliche Phantomschmerzen wegen der ausgesetzten Wehrpflicht; stets spielt die Sorge mit, mit dieser sei das Band zwischen Militär und demokratischer Gesellschaft verschwunden. In der Tat waren Generationen junger Männer zumindest in der Theorie, wenn auch keineswegs immer in der Praxis, jene "Staatsbürger in Uniform", die den Gründern der Bundeswehr um Johann Graf von Kielmansegg vorgeschwebt hatte. In scharfer Abgrenzung zur Nazi-Wehrmacht galt keine unbedingte Gehorsamspflicht mehr, die Wehrpflicht bilde, so Kielmansegg, ein Gleichgewicht "zwischen demokratischer Idee und soldatischer Notwendigkeit".
Der Hass auf den Zwangsdienst an der Waffe löste eine Revolution aus
So "legitim" ist das vermeintliche Kind der deutschen Demokratie freilich nicht. Die Wehrpflicht, Levée en masse, ist zwar eine Schöpfung der Französischen Revolution von 1789, in Deutschland hat sie aber monarchische Wurzeln. "Ein jeder Bürger des Vaterlandes ist der geborene Verteidiger desselben": Mit dieser Devise schuf der preußische Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst 1807, nach der vernichtenden Niederlage Preußens gegen Napoleon, die Grundlagen der allgemeinen Wehrpflicht. Frankreichs Bürgerheere waren zwar das Vorbild, nicht aber "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" der Revolutionäre, Scharnhorst liberaler Geist war bald verdrängt.
Sowohl die Armeen des wilhelminischen Kaiserreichs als auch die Wehrmacht waren Wehrpflichtarmeen; der Hass auf den Zwangsdienst an der Waffe für einen verlorenen Krieg löste im November 1918 sogar die Revolution der Matrosen und Soldaten aus. Die Nazis wiederum benötigten die Wehrpflicht für die Millionen Soldaten starke Wehrmacht, die dann die Welt mit Krieg und Mord überzog. Gegen eine Wiederholung des Aufstands von 1918 richteten Hitlers Heerführer eine Militärjustiz ein, die einer Terrormaschine glich, mindestens 23 000 eigene Soldaten ermorden ließ und in Torgau ein eigenes Konzentrationslager betrieb.
Seit den Fünfzigerjahren standen sich mitten in Europa und entlang der innerdeutschen Grenzen gewaltige Armeen gegenüber. Die in Spitzenzeiten fast eine halbe Million Mann starke Wehrpflichtarmee Bundeswehr bildete dabei das Rückgrat der konventionellen Verteidigung auf Seiten der Nato, sollte der Warschauer Pakt jemals angreifen. 2011 war dies vorüber. Im Nachgang klingt es heute öfter so, als sei der Ausstieg eine Art schwerer Betriebsunfall gewesen, verschuldet durch den berüchtigten, 2013 über seine plagiierte Doktorarbeit tief gestürzten Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Aber in seiner Zeit gab es ernsthafte Gründe dafür.
Erstens brauchte man schlicht keine Massenarmee mehr oder nahm das zumindest an. Die Blockkonfrontation war vorüber, wenig deutete darauf hin, dass sie wiederkehren würde. Die Kräfte der Bundeswehr aber waren im besonders blutigen Jahr 2010, als die Taliban-Angriffe bei Kundus und Baghlan massiv zunahmen, durch den Kampfeinsatz in Afghanistan und andere Auslandsmissionen bis an den Rand beansprucht, Wehrpflichtige mussten nicht mit dorthin - außer Freiwilligen, die länger dienten - und machten ohnehin kaum noch ein Fünftel der Truppe aus.
Die meisten Nato-Staaten stellten auf Berufsarmeen um
Dies führte direkt ins nächste Problem: die Wehrgerechtigkeit. Darunter versteht man, dass die Wehrpflicht oder der Ersatzdienst, mit Ausnahme Zurückgestellter oder Ausgemusterter, gleichermaßen für alle gilt. Die Bundeswehr aber wurde immer kleiner, sie konnte nur noch einen Bruchteil der Wehrpflichtigen aufnehmen, die zahlreichen Verweigerer gar nicht mitgerechnet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Bundesverfassungsgericht der ersten Klage stattgegeben hätte.
Bundeswehr:Lindner grätscht in die Wehrpflicht-Debatte
Christian Lindner und Marie-Agnes Strack-Zimmermann gelten nicht als beste Parteifreunde. Nun versucht der FDP-Chef sogar, schon das Nachdenken über das Pro und Contra zur Wehrpflicht zu stoppen.
Dann waren da die Verbündeten: Die meisten Nato-Staaten hatten, spätestens nach dem Epochenwechsel 1989/90, bereits auf Berufsarmeen umgestellt, die USA schon 1973, gegen Ende des Vietnamkrieges. Zuvor hatten ungezählte junge Männer auf den Straßen Amerikas "hell no - we won't go!" gerufen - der brutal geführte Krieg in Südostasien spaltete die Nation. 2010 galt die Wehrpflicht im Westen als Modell von gestern, außer den Deutschen hielten bloß noch Norwegen und die verfeindeten Nato-Brüder Griechenland und Türkei daran fest.
Eine Hintertür ließen Guttenberg und die schwarz-gelbe Regierung während des Gesetzgebungsverfahrens 2010 allerdings offen: Die Wehrpflicht wurde nicht aus dem Grundgesetz gestrichen, also nicht offiziell abgeschafft. Stattdessen gilt sie als ausgesetzt, sie gilt also noch, wird aber nicht praktiziert. Diese juristische Lage würde es heute leichter machen, sie wieder in Kraft treten zu lassen.
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Allerdings hat die Bundeswehr das sogenannte Wehrersatzwesen zur Erfassung, Musterung und Verwendung der Dienstpflichtigen weitgehend abgeschafft. Die Truppe ist mit 183 000 Soldatinnen und Soldaten derzeit noch kleiner als vor zwölf Jahren, hätte also für Dienstpflichtige weiterhin nicht ausreichend Verwendung; und da wären die jungen Frauen nicht mitgezählt, die heute wahrscheinlich ebenfalls in die Dienstpflicht einbezogen würden - so wie beim 2017 nach dem Schock der russischen Krim-Annexion neu eingeführten Wehrdienst in Schweden, der die Landesverteidigung auf eine viel breitere Basis stellen soll. Seit der Öffnung der Bundeswehr für Soldatinnen 2001 macht deren Anteil heute bereits 13 Prozent aus.
Sicher ist jedenfalls: Eine Rückkehr zur Wehrpflicht, wie auch immer diese aussähe, würde für die Bundeswehr einen erneuten massiven Umbau bedeuten.