Süddeutsche Zeitung

Wehrhahn-Prozess:Ein Verbrechen, das droht ungesühnt zu bleiben

Lesezeit: 4 min

Von Joachim Käppner, München

Mit einem Schlag war ihre Welt zerstört, von einem Augenblick auf den anderen, völlig überraschend, brutal, unwiderruflich. Es gab eine gewaltige Explosion, Splitter, Wunden, Schreie, viel Blut, ein ungeborenes Kind, das im Mutterleib starb. Die per Fernzündung ausgelöste Rohrbombe, die am 27. Juli 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn hochging, kam für die zwölf Opfer wie aus dem Nichts. Sechs von ihnen waren Mitglieder regionaler jüdischer Gemeinden, Einwanderer aus Osteuropa, die nun ausgerechnet in dem Land zu Opfern wurden, das den Holocaust begangen hatte und als Zeichen für seine historische Verantwortung Juden eine bessere Zukunft anbot. Statt dieser Zukunft kam ein Trauma, das manche nie überwunden haben, bis heute nicht.

In dem Prozess aber, der nun fast 18 Jahre später den Anschlag aufklären soll, sind die Opfer wie flüchtige Schatten. Sie haben nicht als Zeugen ausgesagt, ihr weiteres persönliches Schicksal ist unbekannt. Über den Täter hatten sie im Jahr 2000 nichts aussagen können, die Bombe detonierte ja ferngezündet. Aber wäre es für eine Strafzumessung nicht wichtig gewesen zu erfahren, welche langfristigen Folgen das Verbrechen für die Opfer hatte?

Es gibt noch immer keine andere Spur als jene zu Ralf S.

Für eine Strafe ist freilich eine Verurteilung nötig. Seit Donnerstag vergangener Woche ist eine solche jedoch deutlich unwahrscheinlicher geworden. Die 1. Große Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichtes hob nach 22 Verhandlungstagen den Haftbefehl gegen den Angeklagten Ralf S. auf, weil kein "dringender Tatverdacht" mehr bestehe. S. hat alle Vorwürfe bestritten.

Das bedeutet noch nicht, dass es gar keinen Tatverdacht mehr gibt, die Verhandlung wird fortgesetzt. Aber wenn Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück der Verhandlung noch eine Wende geben will, dann wird er neue Indizien, Sachbeweise, Zeugen benötigen.

S. war schon gleich nach der Tat als Hauptverdächtiger geführt worden, was die damaligen Ermittler aber nicht von haarsträubenden Schludrigkeiten abhielt, etwa bei einer Hausdurchsuchung. 2000 sagte S. einer Freundin, er habe Sorge, nun verhaftet zu werden, er trieb sich auffällig am abgesperrten Tatort herum und hatte vorher über Osteuropäer hergezogen. Dem Einzelgänger, der gegen Juden und Ausländer hetzte, ein vom Erfolg nicht verwöhnter Militariahändler und Wachmann mit Verbindungen zur Neonaziszene, war aber nichts nachzuweisen. Erst 14 Jahre später, als er wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe in Haft saß, soll er vor dem Mithäftling L., mit dem er sich dort angefreundet hatte, geprahlt haben, er habe damals "die Kanaken in die Luft gejagt".

Die Verteidigung von S. bezweifelte die Aussage des Mithäftlings L. von Anfang an. Schon am ersten Prozesstag fragte Anwalt Olaf Heuvens, warum in aller Welt ein Mann, der 14 Jahre lang seine Unschuld beteuert hatte, einer Gefängnisbekanntschaft gegenüber plötzlich die Tat zugeben sollte. So hatte sich seit diesem Frühjahr ein verwickelter Indizienprozess ergeben. Mitunter schien man der Kammer, als sie bei Zeugen wie L. wieder und wieder nachfragte, das Unbehagen anzumerken an einem Verfahren ohne Beweise durch moderne Kriminaltechnik wie DNA-Spuren oder wenigstens Augenzeugen, die gesehen hätten, wie der Täter die Bombe drapiert und auslöst. Aber solche Zeugen gab es nicht. Eine andere Spur als jene zu Ralf S. allerdings auch nicht.

Noch am Montag vergangener Woche hatte Staatsanwalt Herrenbrück in der Verhandlung eine durchaus eindrucksvolle Liste von Indizien gegen S. angeführt. Viele Prozessbeobachter nahmen an, es könne nun eng werden für den Angeklagten. Da waren die Aussage von L., der dabei blieb, S. habe sich zu dem Anschlag bekannt, und der Auftritt einer früheren Freundin von S., die nun, anders allerdings als vor 18 Jahren, als Zeugin sagte, sie habe die Bombe in der Küche von S. stehen sehen. Da waren Aussagen von S., die Wissen enthalten, das nur der Täter besitzen könne, wie die Bemerkung über einen ominösen schwarzen Wagen, der am S-Bahnhof stand. Und da waren ein abgehörtes Telefonat, in dem S. 2016 sagte, er habe "dreimal praktisch richtig, richtig Glück gehabt, wenn man die Wehrhahnsache noch dazu nimmt viermal . . .", sowie ein offenbar erfundenes Alibi. Das Mosaik aus Indizien, vielen einzelnen Steinchen der Beweisführung, ergibt kein fertiges Bild, aber kräftige Konturen.

Selbst die Verteidiger waren überrascht, als der Vorsitzende Richter Rainer Drees den Haftbefehl aufhob. Für die Nebenkläger war die Nachricht ein Schock. Die Bochumer Rechtsanwältin Anne Mayer, die eines der Opfer vertritt, will nicht aufgeben: "Trotz dieser Entscheidung der Kammer habe ich weiterhin keine Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten."

Künftige Zeugen werden wissen, dass der Prozess nicht im Sinne der Anklage verläuft

Auch Staatsanwalt Herrenbrück teilt die Zweifel des Gerichts nicht. "Wir haben noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob wir Beschwerde beim Oberlandesgericht wegen der Aufhebung des Haftbefehls einlegen werden", sagt er. Auf jeden Fall will er versuchen, doch noch eine Verurteilung von Ralf S. zu erreichen und deshalb neue Beweisanträge stellen.

Aber es wird schwer. S. wird die Verhandlung künftig als freier Mann verfolgen. Künftige Zeugen wissen, dass der Prozess nicht im Sinne der Anklage läuft. Einige bisherige Zeuginnen hatten S. als rachsüchtig und nachtragend geschildert. Dominik Schumacher von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die den Prozess verfolgt hat, erklärte in einer Stellungnahme: "Ralf S. hat im Verlaufe des Prozesses versucht, sich als harmlosen Spinner darzustellen. Es sieht fast so aus, als könnte er damit durchkommen."

Wechselt man einmal die Perspektive, dann wäre Ralf S. jenes Opfer der Justiz, als das er sich stets dargestellt hatte: ein Mann, an dem ein furchtbarer Verdacht kleben bleibt, dessen Beruf, Beziehungen, Familie an diesem Verdacht kaputtgegangen sind. Aber das ist es nicht, was die Kammer festgestellt hat, als sie den Haftbefehl aufhob. Aus ihrer Sicht waren die Zeugenaussagen schlicht zu widersprüchlich und zu wenig belastbar.

Auch die Mobile Beratung geht "weiterhin von der Täterschaft des Angeklagten aus. Der Wehrhahn-Anschlag ist ohne eine Beteiligung von Ralf S. nicht denkbar". Aber die jetzige Lage sei auch auf die gravierenden Ermittlungsfehler im Jahr 2000 zurückzuführen.

Am Ende könnte ein Verbrechen bleiben, das niemals aufgeklärt und niemals gesühnt wird und allein deshalb langsam aus der Erinnerung rückt. Wenigstens das will Rechtsanwältin Mayer verhindern: "Das Mindeste, was man für die Opfer dieses schrecklichen Anschlags tun könnte, wäre eine Gedenktafel am Tatort anzubringen. Dann hätten sie immerhin die Gewissheit, nicht völlig vergessen zu werden."

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SZ vom 23.05.2018
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