Wehrhahn-Prozess:Erinnerung eines späten Zeugen

Prozess um Wehrhahn-Anschlag

Am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn explodierte am 27. Juni 2000 eine Bombe. Unklar ist, ob wirklich der Rechtsextremist Ralf S. sie legte.

(Foto: Marcel Kusch/dpa)
  • Erst vor einigen Wochen wurde der Angeklagte im Prozess um das Attentat auf den Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn mangels dringendem Tatverdacht aus der Untersuchungshaft entlassen.
  • Jetzt sagt ein Zeuge aus und berichtet ausführlich, wie sich der Angeklagte, der Ex-Soldat Ralf S., ihm gegenüber als der Täter geoutet habe.
  • Der Angeklagte sei ihm durch "irrationalen Hass auf Juden" aufgefallen.

Von Joachim Käppner, Düsseldorf

Für die Strafkammer muss das ein seltsames Gefühl sein: Vor einigen Wochen hat sie den Mann, der angeklagt ist, in Düsseldorf vor 18 Jahren einen Sprengstoffanschlag auf jüdische Sprachschüler aus Russland verübt zu haben, mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entlassen. Und jetzt sagt ein Zeuge aus, der sich erst auf diese Nachricht hin gemeldet hat, und berichtet ausführlich, wie sich der Angeklagte, der Ex-Soldat Ralf S., ihm gegenüber als der Täter geoutet habe.

Der Zeuge, der da am Montag im Düsseldorfer Landgericht spricht, ist ein früherer Mithäftling, Holger P., 47 Jahre alt, ein hagerer, bleicher Mann mit Zopf und Rasputinbart. Und was er sagt, belastet den Angeklagten an diesem letzten Verhandlungstag vor den Plädoyers. Diese sind für Donnerstag angesetzt. P. spricht ruhig, konzentriert, lässt sich durch Nachfragen nicht aus der Ruhe bringen.

Zehn Menschen, überwiegend jüdische Sprachschüler russischer Herkunft, waren am 27. Juli 2000 durch eine mit dem Sprengstoff TNT gefüllte Bombe am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn verletzt worden, einige von ihnen lebensgefährlich. Eine junge Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Und darüber soll sich, sagt P., im Frühjahr beim Hofgang im Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Gefängnisses folgendes Gespräch entfaltet haben: S. habe ihm erzählt, er sei der Täter; eigentlich habe er den Anschlag anders geplant gehabt, die hätten "alle draufgehen sollen". P. habe erwidert, es sei doch ein ungeborenes Kind umgekommen, und habe zur Antwort erhalten: Das nenne man wohl gelungene Euthanasie.

Auch zum Motiv, sagt P., habe sich der Angeklagte geäußert: rechtsextreme Gesinnung. Er habe jeden Tag die Sprachschüler an seinem Militarialaden vorbeigehen sehen und sie als "diese Juden" bezeichnet, "die unter falschen Voraussetzungen nach Deutschland kommen und hier den Staat ausnehmen". Da habe er "sich als Deutscher und Soldat verpflichtet gefühlt zu handeln". Der Angeklagte sei ihm durch "irrationalen Hass auf Juden"aufgefallen. Und erzählt habe der Mann P. das alles nur, weil er ihn aufgrund eines alten Tattoos fälschlich für einen rechtsextremen Gesinnungsgenossen gehalten habe.

P. hat eine Drogenkarriere hinter sich

So weit Holger P. in seiner Aussage. Nun ist er nicht der Traumzeuge der Anklage. Er ist in Haft, weil er in Krefeld eine Frau über Stunden als Geisel genommen und ihr ein Messer an den Hals gehalten hatte. Das SEK schoss ihm ins Bein, er geht nun an Krücken. P. hat eine Drogenkarriere hinter sich, unternahm im Gefängnis einen Suizidversuch und soll mit Depressionen zu kämpfen haben. Er sagt selbst, er habe sein Leben verpfuscht, seine Familie verloren. Einer Diagnose zufolge ist er ein Hochbegabter, den es gründlich aus der Bahn geworfen hat.

Andererseits, warum sollte er sich solche Details wie den Satz über die "Euthanasie" ausdenken? Und noch eine Aussage hat P. bei der Polizei gemacht, die er nun ausführlich wiederholt. S. habe sich nicht nur der Tat gerühmt, sondern auch gedroht, den Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück, zu töten. Von diesem fühle er sich verfolgt, habe S. gesagt, er sei mit der Jüdischen Gemeinde gegen ihn verschworen. S. habe im Netz eine Hasskampagne gegen den Ankläger geplant, bis dieser von so vielen beschimpft werde, dass es viele Verdächtige geben würde, "wenn etwas passiert". Der Staatsanwalt und alle, die ihm geholfen hätten, seien "dran". Soweit die Aussage von P.

Es ist paradox: Je länger dieses Verfahren dauert, desto schwieriger scheint sich die Wahrheitsfindung zu gestalten. Und es ist ja nicht irgendein Verfahren. Der antisemitische Anschlag vom Sommer 2000 erschütterte die Republik, Bundeskanzler Gerhard Schröder rief kurz danach den "Aufstand der Anständigen" gegen rechte Gewalt aus. Wie im NSU-Verfahren gab es bei der Fahndung vor 18 Jahren Pannen und Geschluder. S., heute 52 Jahre alt, ein Eigenbrötler mit rechtsextremen Ansichten und in der Neonaziszene kein Unbekannter, geriet schon damals in Verdacht, doch konnten ihm die Ermittler nichts nachweisen. Auch P.s Aussage beweist nicht, dass S. der Täter wäre. Vielleicht lügt der Zeuge oder fantasiert. Vielleicht aber auch nicht.

Der Angeklagte schreibt nun Hassmails gegen den Staatsanwalt

In jedem Fall geht die Kammer mit bemerkenswerter Gelassenheit an die Sache heran. Der Oberstaatsanwalt erfuhr erst mit elf Tagen Verspätung von dem angeblichen Mordplan gegen ihn - und immerhin läuft S. wieder frei herum. Mehrere frühere Freundinnen haben S. als nachtragend und sehr rachsüchtig geschildert, eine der Frauen wurde von Unbekannten verprügelt. Der Angeklagte schreibt nun Hassmails gegen den Staatsanwalt, der "eine Schande für die Justiz" sei, und beschimpft im Netz seine Ex-Frau.

Die Kammer befragt S. am Montag erstmals in der Verhandlung dazu. S. sagt nun über den Staatsanwalt, er finde ihn "scheiße", und: "Wir werden keine Freunde mehr. Aber ich habe nicht vor, ihn zu töten." Der Vorsitzende Richter belässt es bei milden Gesten der Beschwichtigung. Vergeblich. Aufgebracht ruft S.: "Ich habe nichts mit dem Scheiß-Wehrhahn zu tun." Und mit dem ehemaligen Mithäftling P. habe er nur gelegentlich gesprochen.

P. berichtet das ganz anders. Nachdem sich S. ihm gegenüber zu der Tat bekannt habe, habe sich das Verhalten des Ex-Soldaten plötzlich verändert. P. nimmt an, dass der andere plötzlich die Tragweite einer solchen Selbstbezichtigung erkannt habe, wenn sein Gesprächspartner tatsächlich nicht mehr der rechten Szene angehöre, wie der ihm schon mitgeteilt hatte. Seitdem habe der Mann, so sagt P., hinter seinem Rücken gegen ihn gehetzt und ihn als Spitzel des Staatsschutzes und des Oberstaatsanwalts verleumdet. Auch dies habe zu jener seelischen Zerrüttung beigetragen, die ihn in den Suizidversuch getrieben habe. P. war jedenfalls erst nach der Verlegung in ein anderes Gefängnis bereit, vor Gericht auszusagen, in Düsseldorf hatte er sich bedroht gefühlt.

Der Vorsitzende Richter Rainer Drees und die Verteidiger konfrontieren P. mit Widersprüchen. Tatsächlich geht der Zeuge noch immer davon aus, dass einige Justizangestellte mit S. unter einer Decke gesteckt hätten und dass ein von S. angestifteter Mithäftling versucht habe, P.s Kaffee mit Medikamenten zu vergiften. Es geht dem Zeugen P. nicht gut, als er spricht, aber seine Aussagen sind eindeutig, er nimmt nichts zurück.

Die Kammer glaubte schon der Ex-Freundin von Ralf S. nicht

Es wäre erstaunlich, wenn P. die Kammer in letzter Minute noch überzeugen würde. Sie hat schon dem ersten Belastungszeugen nicht geglaubt, der das Verfahren 2017 überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte. Auch dieser Mann, ebenfalls ein früherer Gefängniskumpel von S., gab an, wie sich S. ihm gegenüber gebrüstet habe: "Ich habe die Kanaken weggesprengt." Die Kammer glaubte auch der Ex-Freundin von S. nicht, der erst nach 18 Jahren, eingefallen sein will, dass sie die Bombe damals in der Küche des Angeklagten gesehen habe. Wenn S. Aussagen nachgewiesen wurden, die seine Täterschaft zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen, galten sie der Kammer als Worte eines unbelehrbaren Prahlhanses.

Erkennbar steht das Gericht unter Druck. Für viele Aktivisten stand S. schon als Schuldiger fest, bevor der erste Verhandlungstag begonnen hatte. Dagegen setzt der Vorsitzende Richter beharrlich das eherne Prinzip "Im Zweifel für den Angeklagten". Sollte der Mann, den die Kammer auf freien Fuß gesetzt hat, jedoch tatsächlich planen, sich am Staatsanwalt und allen zu rächen, die er für dessen Komplizen halten könnte - dann hätte sie ein gewaltiges Problem.

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