Süddeutsche Zeitung

Wehrhafte Juden im Zweiten Weltkrieg:Sei stolz auf deine Mutter!

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In London zeigt die aus den Sammlungen des geflohenen Alfred Wiener hervorgegangene "Wiener Library", wie stark und vielfältig jüdischer Widerstand gegen die Nazidiktatur war.

Von Cathrin Kahlweit

Hermann Kruk erhielt am 17. Januar 1942 eine Einladung zu einem Konzert im Ghetto von Vilna. In einem Gymnasium, so hieß es darin, würden Künstler Musikalisches und Szenisches zur Aufführung bringen.

Kruk vermerkte irritiert in seinem Tagebuch, im ersten Moment habe er sich "gedemütigt" gefühlt; angesichts von Deportationen und allgegenwärtigem Tod sei dies eine Zumutung. Mitglieder des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, fügte er hinzu, hätten aus Protest gegen das Vorhaben Plakate an die Mauern des Ghettos geklebt: "Auf einem Friedhof spielt man kein Theater."

Doch es wurde gespielt. Die Säle waren voll, das Publikum war dankbar für ein paar Momente Ablenkung, Vergessen, Leichtigkeit. Einen Monat später hatte sich bereits eine Musikergilde mit 50 Mitgliedern gebildet, im April wurde ein Theater eingerichtet, insgesamt 120 Vorstellungen vor 38 000 Zuschauern wurden bis zur Liquidierung des Ghettos abgehalten. Kruk war am Ende doch überzeugt: "Das Leben ist stärker als alles."

Waren Theaterspielen, Singen, Musizieren, Rezitieren im Holocaust Akte des aktiven Widerstandes gegen die Auslöschung? Die Kuratoren der "Wiener Library for the Study of the Holocaust" in London haben diese Frage intensiv diskutiert, bevor sie sich an ihr Projekt "Jewish Resistance to the Holocaust" machten, das nun in einer Ausstellung am Russell Square noch bis November präsentiert wird.

Nicht selten, so Direktor Toby Simpson, werde unter Widerstand der bewaffnete Aufstand verstanden, "aber das war uns zu eng". Widerständigkeit gleich Resilienz sei eben auch der kulturelle Widerstand gewesen, die innere, spirituelle Entschlossenheit zum Überleben.

Daher zeigt die Bibliothek, die das größte Archiv in Großbritannien zum Holocaust beherbergt und sich als "lebendes Erinnerungswerk im Dienste der Zukunft" versteht, zahlreiche Objekte, die Widerstand nicht im landläufigen Sinne interpretieren: Tagebücher, Zeugenaussagen vor Gericht, Berichte über gemeinsames Beten dort, wo Beten verboten war, über die Aufrechterhaltung jüdischer Kultur, wo alles Jüdische verfolgt wurde, über die Erhebung der Sinne, wo Verzweiflung und Sterben dominieren sollten.

Und daneben Berichte über Partisanengruppen in den Wäldern, Kuriere und Schmuggler, über Anschläge, Rettungsaktionen und Aufstände, über die in den Konzentrationslagern gesammelten Beweise für die Grausamkeiten der Nazis.

Bis heute, so Direktor Simpson, halte sich der Irrglaube, "die Juden hätten sich kaum gegen ihre Vernichtung gewehrt. Nichts könnte falscher sein." Tosia Altmann etwa war Mitglied der sozialistischen, zionistischen Jugendbewegung "Hashomer Hatzair" gewesen und hatte beim Aufstand im Warschauer Ghetto mitgekämpft.

Altman arbeitete aber auch, ausgestattet mit falschen Papieren, als Kurierin im besetzten Polen, reiste in verschiedenste Ghettos, überbrachte und sammelte Informationen, schmuggelte Waffen. Sie wurde schließlich von den Nazis geschnappt und zu Tode gefoltert.

Auf dem Transport zu ihrer Exekution warf sie einen Brief an ihre Tochter aus dem Fenster

Charlotte Holzer war 1943 zum Tode verurteilt worden für ihre Beteiligung an Widerstandsakten der Baum-Gruppe, angeführt vom Berliner Kommunisten Herbert Baum und seiner Frau. Die Gruppe, die vorwiegend aus Juden bestand, hatte anfänglich Flugblätter verteilt, in denen sie die Deutschen über die im Osten begangenen Verbrechen aufklären wollte, war dann aber zu Angriffen auf NS-Propaganda-Einrichtungen übergegangen.

Fast alle wurden nach einem Brandanschlag auf eine antisemitische Ausstellung festgenommen, Braun vermutlich in Moabit ermordet. Charlotte Holzer, geborene Abraham, konnte vor ihrer Hinrichtung aus einem Gefängniskrankenhaus flüchten und überlebte. Sie gehört zu jenen Zeuginnen und Zeugen, die Forschern der Wiener Library nach dem Krieg über den jüdischen Widerstand berichteten.

In einem Dokument über die Baum-Gruppe heißt es: "Die Gruppe versuchte, durch gemeinsame Wanderungen, Musik- und Leseabende ihre innere Kraft aufrechtzuerhalten und nicht in Lethargie gegenüber dem jüdischen Schicksal zu verfallen." Allmählich aber habe man sich das "Rüstzeug für die illegale Arbeit" angeeignet; so sei eine Widerstandsgruppe entstanden, die Kontakt zu Zwangsarbeitern, kommunistischen Gruppen und Antifaschisten aufnahm.

Die Bibliothek mit ihrem Austellungs- und ihrem Leseraum sowie ihrer Sammlung Tausender Dokumente entstand aus einer Materialsammlung, die bereits Ende der Zwanzigerjahre von dem deutschen Juden Alfred Wiener begonnen worden war; er flüchtete 1933 nach Amsterdam, gründete dort das "Jewish Central Immigration Office" (JCIO). Wiener sammelte früh Beweise für Verfolgung und drohende Vernichtung der Juden und reiste kurz vor Kriegsbeginn mit seiner Sammlung nach London, wo die Bibliothek unter anderem von der britischen Regierung und den Alliierten genutzt wurde.

Nach dem Krieg unterstützte die Wiener Library die Nürnberger Prozesse und den Eichmann-Prozess. Wiener selbst verbrachte Teile des Kriegs in den USA und kehrte später nach Europa zurück.

Seine Familie jedoch war 1944 erst nach Westerbork und dann nach Bergen-Belsen deportiert worden. Tochter Ruth schrieb ein Tagebuch aus "Uliza 8.27, Block 25, Aufenthaltslager Bergen-Belsen, Kreis Celle".Die Familie kam im Januar 1945 in einem Gefangenenaustausch frei und konnte in die Schweiz ausreisen, wo Wieners Frau Margarete jedoch an den Folgen einer Typhuserkrankung und der Unterernährung im Lager starb.

In ihren Tagebüchern dokumentierte Ruth Wiener nicht nur den Lageralltag, sondern - verbotenerweise - auch Infrastruktur und Lagepläne der Lager, in denen sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern inhaftiert war. Auch diese verbotenen Belege für den Horror sind ein Akt des bewussten Widerstands.

Die vielleicht anrührendste Abbildung in der Ausstellung ist ein Brief, den die rumänische Jüdin Olga Bancic im Jahr 1941 an ihre Tochter Dolores schrieb. Bancic, die nach Frankreich emigriert war, hatte als Kurierin in der Résistance für die nach ihrem Anführer Missak Manouchian benannte französische Widerstandsgruppe gearbeitet und war verraten worden. Auf dem Transport zu ihrer Exekution warf sie einen Brief an ihre Tochter aus dem Fenster. "Mein kleiner Liebling", schrieb sie, "deine Mutter schreibt dir einen letzten Brief. Morgen früh um 6 Uhr werde ich sterben. Weine nicht, mein Liebling, ich weine auch nicht mehr." Sie sterbe, so Bancic, mit einem guten Gewissen und in der festen Überzeugung, dass ihre Tochter eine bessere Zukunft und ein besseres Leben haben werde als sie selbst. Sie schließt mit dem Satz: "Sei stolz auf deine Mutter. Ich liebe dich."

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Quelle:
SZ vom 03.09.2020
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