Die Pläne sind noch gar nicht öffentlich vorgestellt, da sind sie auch schon wieder gescheitert. Verteidigungsminister Boris Pistorius macht aus seinem Unmut beim Verlassen der SPD-Fraktionssitzung keinen Hehl. „Das war nicht meine Idee, das war eine Unions-Idee“, sagt er im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Knapp 15 Jahre nach der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht sollte es künftig eine Musterung und Wehrpflicht nach einem Losverfahren geben, so lautete der Kompromiss von Fachpolitikern von Union und SPD.
Nur: Eine Entscheidung über mögliche Fragen von Leben und Tod nach dem Zufallsprinzip, wer zur Musterung und zum Wehrdienst verpflichtet werden soll, das ging vielen in der SPD zu weit. Und so gab es zwar die politische Grundsatzeinigung, doch wegen des Widerstands in der SPD-Fraktionssitzung wurde ein für Dienstagabend angesetztes Pressegespräch zur Vorstellung der Pläne kurzfristig abgesagt. Abgeordnete meinten, so eine Sitzung habe es schon lange nicht mehr gegeben. Man könne Kita-Plätze verlosen, aber nicht, wer zur Bundeswehr muss und wer nicht. Aus der Unionsfraktion wurde hingegen von großer Zustimmung berichtet.
Aber nun geht es, wenn man so will, zurück auf Los, wegen des Widerstands in der SPD – Fraktionschef Matthias Miersch musste zu Krisengesprächen rüber zur gleichzeitig tagenden Unionsfraktion eilen – soll nun am Donnerstag im Bundestag erst einmal der ursprüngliche Entwurf von Pistorius beraten werden. Aber sicher erschien auch dies am Dienstagabend nicht.
Seit Wochen wurde intern verhandelt, was passieren soll, wenn sich nicht genügend junge Männer freiwillig zum Wehrdienst melden, um mittelfristig das Ziel von 260 000 Soldaten und mindestens 200 000 Reservisten zu erfüllen. In den Verhandlungen rückte dabei zuletzt immer stärker Dänemark mit seinem Los-Modell in den Fokus.
Pistorius hat stets viel gemahnt und gewarnt in der Debatte, dass es hier rasch Lösungen für die Personalgewinnung brauche, aber bisher hat er wenig Fortune mit einem seiner wichtigsten Projekte. Ein erster Anlauf schaffte es wegen der Neuwahl nicht mehr durch den Bundestag. Außerdem hatte der damalige Kanzler Olaf Scholz (SPD) die Devise ausgegeben, niemand, der da nicht hinwolle, müsse zur Bundeswehr. Beim zweiten Anlauf von Pistorius setzte die Union dann Anfang des Monats die erste Lesung im Bundestag ab, weil sie eben genau jenes Prinzip der reinen Freiwilligkeit angesichts der Eiszeit im Verhältnis zu Russland für zu riskant hält. Jedoch gibt es auch noch einen SPD-Parteitagsbeschluss von Ende Juni, der einen Automatismus hin zu einer Verpflichtung ausschließt, wenn sich nicht genug Männer freiwillig zum Dienst an der Waffe melden.
Wer nicht antwortet, muss Bußgeld zahlen
Die Koalition hatte also ein Problem. Und so formierte sich ein Quartett, um den Gesetzentwurf noch vor Einbringung ins Parlament zu überarbeiten. Es bestand aus den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Norbert Röttgen (CDU) und Siemtje Möller (SPD) sowie den verteidigungspolitischen Sprechern der beiden Koalitionsfraktionen, Thomas Erndl (CSU) und Falko Droßmann (SPD). Nun gab es die Verständigung der Fachpolitiker auf ein Stufenmodell, das Dienstagnachmittag den Koalitionsfraktionen vorgestellt wurde. Vor Beginn dieser Sitzungen zeigte sich Unionsfraktionschef Jens Spahn noch zufrieden darüber, dass man eine „Lösung“ erreicht habe. Sein SPD-Kollege Matthias Miersch sagte, er sei froh, dass man „Eckpunkte“ habe vereinbaren können.
Was genau war nun geplant? Zunächst sollten von 2026 an alle 18-Jährigen eines Jahrgangs von der Bundeswehr angeschrieben werden, also alle ab 2008 Geborenen. In dem Fragebogen geht es um die Ausbildung, die körperliche Fitness und die Bereitschaft zu einem mindestens sechsmonatigen Wehrdienst. Männer müssen antworten, sonst droht ein Bußgeld, Frauen können antworten, weil es für sie bisher keine, derzeit ausgesetzte, allgemeine Wehrpflicht gibt. Das soll auch so bleiben.
Dann sollte – und das war neu – nur ein bestimmter Teil der Männer zur Musterung bestellt werden. Wie viele genau, das ist bisher unklar. Diese sollen ausgelost werden, wenn sich nicht genug Freiwillige melden. Durch ein persönliches Gespräch bei der Musterung sollten mehr junge Männer von einem Wehrdienst überzeugt werden, so die Hoffnung, auch mit guter Bezahlung von rund 2300 Euro netto. Pistorius hingegen wollte präventiv alle jungen Männer, bis zu 300 000 pro Jahrgang, mustern lassen, damit bei einem Spannungs- oder Verteidigungsfall mit Wiedereinsetzung der allgemeinen Wehrpflicht gleich ein genaues Bild über die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen existiert. Und weil man so weniger in juristische Probleme hineinlaufen könnte.
In dem neuen Modell sollte in einer dritten Stufe dann, wenn noch festzulegende Zielzahlen bei dem freiwilligen Wehrdienst verfehlt werden, eine Teil-Wehrpflicht greifen – eine Kernforderung der Union. Werden zum Beispiel pro Jahr 30 000 Freiwillige gebraucht, es melden sich aber lediglich 20 000 und es sind auch durch die Musterungsgespräche nicht genug Wehrdienstleistende zu gewinnen, würden 10 000 weitere per Los verpflichtet. Wer diesen Wehrdienst verweigert – das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gilt weiterhin –, müsste dann wohl einen Ersatzdienst ableisten.
Bis 2031 soll es 40 000 zusätzliche Plätze für Rekruten geben
Aber: Diese Aktivierung mit dem Wehrpflicht-Losverfahren hätte erst noch einmal gesondert vom Bundestag genehmigt werden müssen – wegen des SPD-Beschlusses, dass es keinen Automatismus geben darf. Die Union nennt das eine „Bedarfswehrpflicht“. Pistorius betont, es gebe ohnehin noch nicht genügend Kasernen und Ausbilder für eine Rückkehr zu einer allgemeinen Wehrpflicht. Bis zum Jahr 2031 sollen nun 40 000 zusätzliche Plätze für Rekruten geschaffen werden. Pistorius will dafür auch den Bau von 270 neuen Kompaniegebäuden in Auftrag geben. Geplant ist zudem die Unterbringung von mehreren, in der Regel vier, Rekruten je Stube.
In Dänemark gibt es bisher laut der Botschaft des Landes das Ziel von 4500 Wehrdienstleistenden im Jahr. Alle Männer müssen zur Musterung und zudem ein Los ziehen. Wer eine Zahl zwischen 1 und 4500 zieht, kann verpflichtet werden, wenn sich nicht genug Freiwillige melden. Von Februar 2026 an soll die Zahl der Wehrdienstleistenden dann auf 6500 steigen. In Dänemark ist die Wehrpflicht per Lotterie kürzlich auch auf Frauen erweitert worden.
Die Union hatte zu dem Losverfahren ein Rechtsgutachten beim früheren Verfassungsrichter Udo Di Fabio in Auftrag gegeben, es liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Di Fabio kommt zu dem Schluss, dass das Losverfahren sowohl bei der Musterung als auch bei einer Heranziehung zum Wehrdienst zulässig sein könnte. Allerdings gibt es auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1978. Das Gericht schreibt, der Grundwehrdienst greife erheblich in die persönliche Lebensführung ein. „Zur Wahrung der staatsbürgerlichen Gleichheit und Wehrgerechtigkeit ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass die Einberufungen nicht willkürlich vorgenommen werden.“
Ist ein Losverfahren am Ende rechtlich problematisch?
Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem 2005 entschieden, der Grundsatz der Wehrgerechtigkeit gebiete es, möglichst alle verfügbaren Wehrpflichtigen auch zum Wehrdienst heranzuziehen. „Wehrgerechtigkeit ist also nur gewährleistet, wenn die Zahl derjenigen, die tatsächlich Wehrdienst leisten, der Zahl derjenigen, die nach Maßgabe der Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, zumindest nahe kommt.“ Das bedeutet, dass eine Wehrpflicht verfassungsrechtlich dann besonders problematisch ist, wenn nur eine vergleichsweise kleine Gruppe verpflichtet wird.
Der frühere Verfassungsrichter Di Fabio räumt in seinem Gutachten ein, es sei fraglich, „ob es sich bei einem Losverfahren um eine Ausformung von Willkür handelt, oder ob es vielmehr als gerechtes Verfahren betrachtet werden kann“. Ein Auswahlverfahren per Los sei bereits bei der Vergabe von Studienplätzen und Standplätzen für zulässig erklärt worden und werde auch bei der Bestellung von Bürgerräten angewandt. „Dennoch wird dem Losverfahren insbesondere im Rahmen einer gleichmäßigen Heranziehung zu einem Pflichtdienst entgegengehalten, der Zufall sei näher an der Willkür als an der Gerechtigkeit.“
In der Spitze der Unionsfraktion hieß es dagegen, es gebe in der Union zwar auch einige Zweifler am Losverfahren. Aber bisher habe noch niemand einen besseren Vorschlag gemacht. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann sagte, er könne verstehen, dass bei vielen ein Losverfahren auf Unverständnis stoße. Das Übermaßverbot verbiete es dem Staat aber, alle zu einem Wehrdienst heranzuziehen, obwohl gar nicht alle gebraucht werden. Das Losverfahren stelle Gleichheit her, da jeder die gleiche Chance oder Nichtchance habe, ausgewählt zu werden. Man hoffe aber, dass es gar nicht zu verpflichtenden Elementen kommen müsse und man durch gute Angebote genügend junge Bürger von einem freiwilligen Wehrdienst überzeugen könne – etwa durch einen attraktiven Sold, durch die Möglichkeit, den Führerschein zu erwerben, oder durch die Chance, Cyber- und IT-Kompetenzen zu erwerben.

