Weg aus der DDR:Mein Mauerfall am Tag danach

Ihr Vater war aus der DDR geflüchtet, jetzt sollte die Familie nachkommen: Warum unsere Autorin den Mauerfall verschlief - und der 10. November 1989 zum Kuriosum geriet.

Dorothea Grass

Alle Welt ist an diesem Montag nach den persönlichen Erinnerungen an den 9. November 1989 gefragt worden - besonders Menschen aus dem Osten. "Wo waren Sie gerade?" "Was haben Sie gefühlt oder gedacht?"

Weg aus der DDR: An der Berliner Mauer: Unsere Autorin Dorothea Grass Anfang der neunziger Jahre in Berlin

An der Berliner Mauer: Unsere Autorin Dorothea Grass Anfang der neunziger Jahre in Berlin

(Foto: Foto: privat)

Auch ich komme aus dem Osten und werde das gefragt. Meine persönlichen Erinnerungen an den Tag, an dem die Mauer fiel, sind jedoch kläglich. Erst einen Tag später habe ich vom Fall der Mauer erfahren.

Wenn ich heute - 20 Jahre danach - all die Bilder von aufgeregten und glücklichen Menschen sehe, die am 9. November 1989 von Ost- nach Westberlin drängten, wild winkend, hupend, heulend - dann muss ich trotzdem heulen. Noch heute - auch wenn meine persönliche Mauer erst am 10. November 1989 einstürzte. Einen Tag nach dem Mauerfall in Berlin.

Aufgeregt im Wohnzimmer

Ich war damals zwölf Jahre alt, weit weg von der Hauptstadt der DDR und der berühmten Mauer. Am frühen Abend des 9. November 1989 saß ich mit meinen Brüdern und meiner Mutter im Wohnzimmer meiner Großeltern, die in einer thüringischen Kleinstadt lebten, keine 20 Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. Der Familienrat war zusammengekommen. Wir waren aufgeregt.

Meine Mutter hatte im Laufe des Tages einen Anruf bekommen. "Morgen werden Ihre Papiere fertig sein", hatte es geheißen. Konkret bedeutete das: Morgen sollte unser Ausreiseantrag bewilligt werden. Nach anderthalb Jahren. Morgen sollte endlich unser Leben im Westen weitergehen, aber noch viel wichtiger: Morgen sollten wir Kinder unseren Vater wiedersehen und meine Mutter ihren Mann. Nach anderthalb Jahren. Die Familie sollte wieder komplett sein. Endlich.

Im Video: Am Brandenburger Tor haben Politiker vieler Länder des Mauerfalls vor 20 Jahren gedacht.

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Im Mai 1988 war mein Vater von einem genehmigten Besuch im Westen nicht in die DDR zurückgekehrt. Meine Mutter stellte einen Antrag auf Familienzusammenführung, also einen Ausreiseantrag, damit wir ihm folgen konnten.

Erst viel später, als wir längst im Westen waren, erzählte mir meine Mutter, dass die Flucht meines Vaters mit ihr abgesprochen gewesen war. Uns Kindern hatte sie immer wieder gesagt, dass sie davon nichts gewusst habe. Der Grund war einfach: Über etwas, was wir Kinder nicht wussten, konnten wir uns auch nicht verplappern. Denn das hätte für unseren Ausreiseantrag das Ende bedeutet und die Stasi hätte doch noch etwas gegen meine Mutter in der Hand gehabt - die Folgen möchte ich mir auch jetzt lieber nicht ausmalen.

"Die mit der Ausreise"

Das mit dem Antrag und der Familienzusammenführung war natürlich nicht so einfach, wie es auf Anhieb klingen mag. In unserem Umfeld, in dem verschlafenen Nest in der thüringischen Rhön, in dem wir wohnten, waren wir jetzt die anderen, "die mit der Ausreise".

Seit wir den Antrag gestellt hatten, lebten wir in einer Art Paralleluniversum. Nur wenige DDR-Bürger lernten diese Welt kennen. Der konforme "Rest" ahnte vielleicht davon. Viele ehemalige Ostdeutsche, die ich in den vergangenen 20 Jahren kennengelernt habe und die mit dem DDR-System nie in Konflikt gekommen sind, reagieren erstaunt und neugierig auf meine Erinnerungen an diese Seite des Arbeiter- und Bauernstaates. Ich habe gelernt, dass zur gleichen Zeit am gleichen Ort gewesen zu sein, längst nicht bedeutet, dort auch dasselbe erfahren zu haben.

Unser neues Universum hatte sich bald über unseren normalen, bisher gekannten Ostalltag gelegt. Meine Brüder und ich waren als Kinder eines Staatsfeindes von nun an bei schulischen oder gesellschaftlichen Ereignissen oft genug nur noch Zaungäste.

Verwanzte Wohnung

Ich erinnere mich dabei an eine Begebenheit bei der Volkshochschule. Mein Zwillingsbruder und ich wollten in Vorbereitung auf unseren Schulbesuch in der BRD, der irgendwann einmal eintreten sollte, Englisch lernen. In der Schule hatten wir bisher nur Russisch gehabt. Die erste Englischstunde des VHS-Kurses begann, wir übten bereits erste Wörter und schrieben eifrig mit, als es an der Türe klopfte.

Mein Bruder und ich sollten unsere Sachen packen und den Raum verlassen. Vor der Tür erklärte uns der Herr, der geklopft und uns herausgeholt hatte, dass wir ja sicherlich verstehen würden, dass wir hier nicht mitmachen könnten. Aufgrund unserer momentanen Situation.

Mein Bruder und ich waren elf Jahre alt. Das einzige, das wir verstanden, war, dass wir einmal mehr nicht erwünscht waren und jetzt in dem leeren Flur auf unsere Mutter warten mussten, bis sie uns abholt.

Das Leben der anderen - seitdem unsere "Ausreise lief", fand es ohne uns statt. Dafür hatten wir eine verwanzte Wohnung, ein Telefon mit knackender Leitung und öfters mal Besuch von Herren in grauen Mänteln, die ungefragt jede Schublade unserer Wohnung durchwühlen durften, die uns schikanieren konnten, wann immer sie wollten und dabei offiziell nach Beweisen dafür suchten, dass meine Mutter die Flucht meines Vaters von Anfang an mit geplant hat. Wir hatten den Trampelpfad der Pioniere verlassen, liefen außerhalb der Spur. Und das nicht nur äußerlich.

Nicht, dass uns das Anderssein so vollkommen neu gewesen wäre. Meine Familie war in der Kirche, wir Kinder wurden christlich erzogen, mein Großvater hatte es während der Enteignungsphase der fünfziger Jahre wie durch ein Wunder geschafft inmitten der sozialistischen Planwirtschaft seine eigene kleine Firma zu behalten und wir hatten viel Verwandtschaft im Westen. Schon jede Tatsache für sich genommen lieferte in der DDR genügend Grund, als suspekt zu gelten.

In der Schulklasse mussten sich alle Kinder melden, die in die Kirche gingen - es waren fünf von 25. Ob wir denn etwa nicht wüssten, dass es Gott gar nicht gebe und Weihnachten nur ein alter Winterbrauch sei? Die anderen Kinder glotzten uns an. Auch deshalb war eine überzeugte DDR-Bürgerschaft für uns von vornherein unmöglich.

Von klein auf war für meine Brüder und mich klar, dass unsere Eltern irgendwann mit uns die DDR verlassen würden, um in den Westen zu gehen. Eines Tages, wer weiß wann.

Im Aufbruch

Dieser Tag sollte nun also morgen sein. Der Plan lautete folgendermaßen: früh ins Bett gehen, früh wieder aufstehen - es würde ein anstrengender Tag werden. Die Stimmung der Tage und Wochen zuvor hatte sich immer mehr aufgeheizt, jeden Tag schien wieder etwas Neues zu passieren in der DDR. Ganz so wie auch in unserer Familie.

Zwei Wochen zuvor hatten meine Brüder, meine Mutter und ich noch im nahegelegenen Sperrgebiet gewohnt. Nur Anwohner und deren Angehörige durften mit einer Genehmigung den Schlagbaum in das Gebiet passieren, das unmittelbar an die innerdeutsche Grenze reichte. Die hatten wir jeden Tag vor der Nase.

Jeden Tag sahen wir den Kahlschlag mit den Grenzbefestigungen und auf dem Hügel direkt hinter der Ortsgrenze den "goldenen Westen"; die einheitlich dunkel gedeckten Häuser auf der anderen Seite, davor die ewig zu zweit patrouillierenden Soldaten und die Scheinwerferkegel, die nachts über die Wiesen tasteten.

Lesen Sie auf Seite 2, was die Familie bei ihrer Ausreise an der Grenze erwartete - und wie das Wiedersehen unserer Autorin mit ihrem Vater verlief.

Den Mauerfall verschlafen

Wie oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn mein Vater auf der anderen Seite auf dem Hügel stünde und mir zuwinkte - genau in dem Augenblick, wenn ich durch ein Fernglas dorthin schauen würde. Aber mit dem Fernglas "nach drüben" zu blicken - das hätten wir uns niemals getraut.

Interaktive Grafik Bitte klicken Sie auf das Bild, um die Grafik aufzurufen: 20 jahre Mauerfall

Mitte Oktober 1989 wurde meiner Mutter, die wegen unseres Ausreiseantrags alle paar Wochen beim Rat des Kreises (vergleichbar dem heutigen Landratsamt) vorsprechen musste und dabei das Gebäude immer nur durch den Nebeneingang betreten durfte, mitgeteilt, das wir in der "nächsten Zeit" mit "Abschluss" unseres Antrages rechnen sollten. Unsere Wohnung im Grenzgebiet sollten wir jedoch jetzt schon verlassen. Die Eltern meiner Mutter boten uns an, für die nächste, ungewisse Zeit zu ihnen zu ziehen.

Innerhalb weniger Tage half die ganze Familie beim Umzug. Und beim Auflisten. Alles, was wir mitnehmen wollten, musste in sechsfacher Ausfertigung aufgeschrieben werden; jedes Buch, jedes Wäschestück, jede Schallplatte. Meine Großmutter tippte auf ihrer Schreibmaschine, in die sie mehrere Schichten Schreib- und Durchschlagpapier eingespannt hatte.

Während unsere Wohnung immer leerer wurde, wurde es auf den Straßen draußen immer lauter. Leipzig, Dresden - die mutigen Märsche in den ostdeutschen Metropolen waren nun auch in der tiefen thüringischen Provinz angekommen. Vom Fenster unseres Wintergartens sah ich abends auf die Straße und die Schule, die gegenüberlag.

Seit ein paar Tagen gingen meine Brüder und ich jedoch nicht mehr hin; seitdem klarwurde, dass wir "raus mussten" aus dem Grenzgebiet. Das Gefühl der Staatenlosigkeit und des Ausgeschlossenseins war für mich nie wieder gegenwärtiger als in diesem Moment.

Die Fenster gegenüber waren erhellt. Demonstranten hatten sich in der Schulaula versammelt, wo eine Diskussion aus "aktuell-politischem Anlass" stattfinden sollte - bei der "die Offiziellen" furios niedergebrüllt wurden: "Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"

Den Mauerfall verschlafen

Als Schabowski am Abend des 9. November, seinen berühmten Zettel vor sich, die Maueröffnung ernuschelte, war der Fernseher bei meinen Großeltern bereits ausgeschaltet und die Familie auf dem Weg ins Bett. Einen der wichtigsten Momente der deutschen Geschichte verschliefen wir großzügig.

Am nächsten Morgen stand mein Onkel in der Tür. "Die Mauer ist offen!", sagte er. Wir schauten ihn ungläubig und erwartungsvoll zugleich an. Es blieb nicht viel Zeit zum Diskutieren der neuesten politischen Ereignisse, wir hatten genug mit uns zu tun. Meine Mutter wollte mit meinen Brüdern und mir frühzeitig auf der Polizeiwache sein.

Dort war kein Durchkommen mehr. Menschen drängten sich aneinander, alle wollten ein Visum. Auf ein Mal! Und überhaupt, woher kamen die alle? In mir machte sich Unmut breit. Wie lange hatten wir darauf gewartet, hier erscheinen zu dürfen um unsere Ausreisepapiere abzuholen!

Wie endlos lang war uns die Zeit des Wartens, Bangens, Hoffens und der Ungewissheit vorgekommen! Wie oft hatte ich gedacht, ich sehe meinen Vater nie wieder und die große weite Welt sowieso nicht. Und bei all denen hier sollte das jetzt einfach so gehen? In diesem Moment fand ich das ungerecht.

Wir wurden an den Menschentrauben vorbei in ein separates Büro geschleust. Hier mussten wir unsere Pässe abgeben und bekamen unsere Ausbürgerungs-Papiere sowie die Genehmigung zur Ausreise ausgehändigt.

Jetzt waren wir staatenlos. Mit der Auflage, innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen zu müssen, machten wir uns sofort auf den Weg.

Fragen an der Grenze

Mein Großvater hatte einen Anhänger an seinen blauen Lada gehängt, drin war neben unseren Koffern unser gesamtes Bettzeug. Meine Mutter saß auf dem Beifahrersitz, meine beiden Brüder und ich auf der Rückbank. Im Auto hinter uns folgten meine Großmutter und ihr Bruder, die uns an diesem Tag begleiten wollten. Als Rentner verfügten sie über eine Reiseerlaubnis.

Die Straßen waren nebelverhangen, die Luft grau und kalt. Wir fuhren etwa eine knappe Stunde in südöstlicher Richtung. In einem Waldstück hatten wir plötzlich die Staatsgrenze erreicht. Wie schnell wir hier angekommen waren! Wie oft waren wir hier langgefahren, nichts ahnend, dass gleich hinter dem Berg schon der Westen beginnt!

Wir hielten die Luft an. Der Grenzer kam auf unser Auto zu, meine Mutter gab ihm die Papiere. Neben ihm beugte sich ein Journalist ans Fenster. Er fragte meine Mutter nach ihrem Beruf. "Zahnärztin also. Haben Sie denn gar kein schlechtes Gewissen, Ihre Patienten im Stich zu lassen?" Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter antwortete. Viel kann es nicht gewesen sein und der Moment für heroische Aussagen schien für sie auch noch nicht gekommen. Sie war verunsichert und wollte weiter.

Sprung aus dem fahrenden Auto

Wir passierten die Grenze. Der Boden unter uns war jetzt bayerisch. Wieder wartete ein Reporter. Woher wir kämen und wohin wir wollten, fragte er. Fast wie die Grenzer zuvor, aber eben nur fast. Er zeigte Freundlichkeit und Interesse. Ab jetzt wird wohl einiges anders werden, dachte ich. Wider mein Erwarten roch die Luft immer noch gleich.

Im nächsten Ort fuhren wir auf einen Parkplatz. Schon von weitem sah ich meinen Vater neben einem VW-Bus stehen. Jetzt warten, bis unser Auto zum Stehen kam, war für mich unmöglich. Ich hielt es nicht mehr aus, riss die Tür unseres fahrenden Ladas auf und sprang aus dem Auto. Heulend rannte ich meinem Vater in die Arme.

Natürlich bin ich froh, dass die Mauer nicht mehr steht. Ich bin auch froh, dass es die DDR nicht mehr gibt und dass dieses Beispiel der Geschichte zeigt, wie viel menschliche Courage bewirken kann.

Am 10. November 1989 war ich jedoch einfach nur glücklich, dass unsere Familie wieder vereint war.

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