Süddeutsche Zeitung

Was die Guantanamo-Dokumente verraten:Wir wissen nicht, was wir nicht wissen

Die Guantanamo-Papiere zeigen, wie sich eine unkontrollierte US-Exekutive eine Gefahr konstruiert und ihre eigene Wahrheit schafft. Die Paranoia der Bush-Regierung führte zu teils grotesken Verhören.

Nicolas Richter

Zu den modernen Schreckensvorstellungen gehört der Staat, der alles über seine Bürger weiß - der pausenlos sammelt, speichert, filmt, abhört und beobachtet. Die jetzt veröffentlichten Guantanamo-Papiere erzählen von einer anderen, realeren Gefahr: vom Staat, der vieles nicht weiß, aber umso mehr vermutet. Er nimmt Gefangene, sammelt Gerüchte über sie, erstellt daraus Prognosen und begründet damit noch längere Haft. Vielleicht ist dieser ahnungslose, argwöhnende Staat noch beunruhigender als der allwissende.

Die Guantanamo-Papiere schildern, wie sich Ungefähres zu vermeintlicher Gewissheit verdichtet. Die Dokumente sind übersät von technokratischen Begriffen und Kürzeln: SECRET, NOFORN (Nicht für ausländische Regierungen bestimmt). Jeder Insasse wird zur Nummer (Internment Serial Number), etwa US9PK-001094DP. Es folgt die Einschätzung der Guantanamo-Task-Force JTF-GTMO, oft lautet die Empfehlung: CD (continued detention, also weitere Gefangenschaft unter der Kontrolle des Verteidigungsministeriums, DoD).

Der bürokratische, gar penible Charakter der Guantanamo-Akten (Vermerk etwa: Gefangener war bei seiner Festnahme im Besitz einer Zahnbürste) suggeriert Akribie und Wissen, doch wird dieser Eindruck meist widerlegt durch das, was schließlich dort an Substanz zu finden ist. Viele Verdachtsmomente haben sich die Terrorbekämpfer zusammengereimt, sie beruhen auf Indizien wie dem Tragen einer bestimmten Uhr, Gerüchten über angebliche Nähe zu al-Qaida, Aussagen anderer Gefangener, die psychisch krank waren und unter Zwang oder Folter verhört wurden.

Dass die Vorwürfe gegen Hunderte Insassen überwiegend windig waren, hatte die Welt schon im Jahr 2006 erfahren, als Protokolle der Militärkommissionen veröffentlicht wurden. Diese Combatant Status Review Tribunals sollten die Gefangenen überprüfen. Oft hatten sie afghanische Ziegenhirten und Nomaden vor sich, die bloß Opfer von Verwechslung, Zufall oder übler Nachrede waren; diese Beschuldigten beschwerten sich, dass sie weder die Belastungszeugen kannten, noch das Belastungsmaterial lesen durften. Alles war - mit Rücksicht auf geheime "Quellen" - geheim.

Ein Kasache, der angeblich für die Taliban gekocht hatte und deswegen als deren Unterstützer gefangen genommen wurde, beteuerte vor dem Tribunal, er habe nur Gemüse angebaut, gekocht habe immer seine Mutter. Das Tribunal ("Wir wissen nicht viel über Sie", "Wir versuchen herauszufinden, warum Sie hier sind") wusste selbst nicht genau, warum der Mann überhaupt verdächtig war.

Selbstmord als "Akt asymmetrischer Kriegsführung gegen uns"

Das Groteske dieser Dialoge, die Unschärfe der Vorwürfe, die Zweifel am Verfahren, all das findet sich in den jetzt veröffentlichten "Gefangenen-Bewertungen" kaum wieder. Während ein Strafrichter von der Schuld eines Angeklagten überzeugt sein muss, reichte in Guantanamo eine bloße Gefahrenprognose; sehr oft lautete sie auf "HIGH risk", hohes Risiko, da der Gefangene in Freiheit "wahrscheinlich" gefährlich für die Amerikaner, deren Interessen (!) und Verbündete werde.

Die Guantanamo-Papiere zeigen, wie sich eine - jeglicher Kontrolle oder Korrektur entzogene - Exekutive eine Gefahr konstruiert und unterhält. Viele Vorwürfe scheinen sich nur deswegen erhärtet zu haben, weil sie bei Vernehmungen, Anhörungen, Einschätzungen, internen Überprüfungen so oft wiederholt wurden. Weil der Staat die Wahrheit über die allermeisten Gefangenen nicht ermitteln konnte, schaffte er einfach seine eigene Wahrheit, indem er ungünstige Verhaltensprognosen erstellte.

Wie sehr sich diese besessene Exekutive von der Realität löste, offenbarte 2006 ein US-General: Nachdem sich drei Insassen erhängt hatten, erklärte er, dies sei ein "Akt asymmetrischer Kriegsführung gegen uns". Überhaupt war es ja Kern der Sicherheitspolitik des damaligen Präsidenten George W. Bush, mögliche Gefahren zu bekämpfen, bevor sie sich überhaupt materialisierten, im Irak wie in Guantanamo. Das skurrile Referat des Ex-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld über das unbekannte Unbekannte ("Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen") gab diese Haltung bestens wieder. Die Exekutive wusste nichts Genaues, aber das bewies ja nur, dass sich der Feind noch raffinierter anpirschte.

Die neuen Papiere über Regierungs-Paranoia werden den ideologischen Streit um Guantanamo nicht lösen. Die Lagerbefürworter in den USA haben sofort darauf hingewiesen, dass einige Gefangene nach der Freilassung Gewalttaten verübt hätten. Die Gegner hingegen zählten neue Belege dafür auf, dass harmlose Männer viel zu lange in Gefangenschaft saßen. Wie viel Schaden Guantanamo verhindert hat, ist unklar. Den Schaden aber, den es seinen Insassen, dem Recht und staatlicher Glaubwürdigkeit zugefügt hat, ist beträchtlich.

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SZ vom 29.04.2011/jab
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