Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in Syrien:Idlib, völlig unvorbereitet

  • Drei Millionen Flüchtlinge leben im Nordwesten des Landes unter extrem beengten und unhygienischen Bedingungen: Ärzte und NGOs warnen vor einer unkotrollierten Ausbreitung des Virus und Zehntausenden Toten.
  • Regelmäßiges Händewaschen oder Duschen sei angesichts des Wassermangels in der syrischen Rebellenhochburg eine Illusion.
  • Es fehle dort an Test-Kits, Quarantäne-Plätzen, Intensivbetten, Beatmungsgeräten und medizinischem Personal.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Die syrische Rebellenhochburg Idlib könnte zu einem Zentrum der Corona-Krise werden. Von der internationalen Gemeinschaft fast unbeachtet leben im Nordwesten Syriens etwa drei Millionen Flüchtlinge unter extrem beengten und unhygienischen Bedingungen in Lagern. Sollte sich das Coronavirus auch dort verbreiten, drohten Zehntausende Tote, sagten Vertreter der lokalen Selbstverwaltung von Idlib sowie Ärzte und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen auf Anfrage eines lokalen SZ-Mitarbeiters.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte am Sonntag zwar, es gebe in Syrien keine einzige Corona-Infektion. Das dürfte aber daran liegen, dass in dem Bürgerkriegsland bisher fast gar nicht getestet wurde. Am Abend wurde von der syrischen Regierung der erste Corona-Fall gemeldet. Die Person sei aber aus dem Ausland gekommen, sagte der Gesundheitsminister. Das von den Aufständischen kontrollierte Gebiet sei auf eine mögliche Massenausbreitung des Virus völlig unvorbereitet, sagten die von der SZ befragten Ärzte in Idlib übereinstimmend. Die vorhandene medizinische Infrastruktur sei miserabel.

Der Nordwesten Syriens ist wegen der elenden Lebensbedingungen der drei Millionen Flüchtlinge, Vertriebenen und Ausgebombten extrem gefährdet. Syriens Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Bürgerkrieg heruntergewirtschaftet, dies gilt vor allem für den Norden, wo sich die Aufständischen in Teilen der Provinz Idlib und im Umland von Aleppo bisher halten können.

Dort leben nach UN-Angaben mindestens ein Drittel der Flüchtlinge in Zelten, auf Baustellen oder in provisorischen Massenunterkünften wie etwa Sportstadien oder Gemeindehallen. Soziale Distanzierung, darauf verweisen Nichtregierungsorganisationen und Ärzte, sei in Zelten mit bis zu zwölf Insassen unmöglich. Regelmäßiges Händewaschen oder Duschen sei angesichts des Wassermangels eine Illusion.

Da im von den Rebellen noch kontrollierten Teil von Idlib Hunderttausende Menschen unter solchen Umständen lebten, sei mit einer dramatischen Ausbreitung der Lungenkrankheit zu rechnen, sagte auch Abd al-Hakim Ramadan. Der Arzt arbeitet im Idlib-Gesundheitsdepartement, einer Einrichtung der Selbstverwaltung der Aufständischen: "Wenn es zu einer Massenansteckung kommt, ist mit dem Tod von mehr als 100 000 Menschen zu rechnen, da es keine Mittel gibt, eine rasche Weiterverbreitung zu unterbinden." Es fehle an Test-Kits, Quarantäne-Plätzen, Intensivbetten, Beatmungsgeräten und medizinischem Personal. Die New York Times berichtete unter Berufung auf lokale Ärzte, in Idlib gebe es nur 153 Beatmungsgeräte.

Die von der WHO zugesagten Test-Kits lassen auf sich warten

Muhamed Firas al-Jundi, ehemals Gesundheitsminister im Rebellengebiet, sagte der SZ, es herrsche völlige Unklarheit über den Stand einer mögliche Infektionswelle. Man habe drei Mitarbeiter ins türkische Ankara geschickt, um sie schulen zu lassen, nun fehlten die Test-Kits. Aufklärungskampagnen über Hygiene und Distanzhalten bezeichnete auch dieser Arzt angesichts der Lebensbedingungen als sinnlos. "Violet", eine lokale NGO, hat nach eigenen Angaben zwar 40 Pfleger und Helfer ausgebildet. Violet hat ihrem Mitarbeiter Mamoun Kharbout zufolge bisher aber auch keinerlei Test-Ausrüstung.

Übereinstimmend hieß es, bisher sei abgesehen von Einzelfällen in Idlib nicht getestet worden. Die von der WHO zugesagten Kits ließen auf sich warten. Die WHO hatte zwar erklärt, Tests liefern zu wollen. Als internationale Organisation hatte sie sich aber zuerst an die Regierung von Baschar al-Assad gewandt: Das Rebellengebiet bildet keinen Staat, sondern ist völkerrechtlich bis heute Teil Syriens. Das Regime wiederum wird wenig Interesse haben, den Aufständischen zu helfen. Der WHO zufolge wurden inzwischen drei Proben zum Testen in die benachbarte Türkei gebracht, sie seien negativ gewesen. Die derzeit geltende Waffenruhe zwischen dem Regime und den Aufständischen in Idlib ist brüchig. Sie wird von Russland und der Türkei garantiert - Moskau unterstützt Damaskus, Ankara hält zu den Rebellen. Sollte die Waffenruhe gebrochen werden, dürften die verheerenden Luftangriffe wieder beginnen: Syrische und russische Jets bombardieren im Rebellengebiet gezielt auch Krankenhäuser.

Auch der Rest Syriens, der in Teilen ebenfalls zerstört ist, dürfte von Corona gefährdet sein. Die Assad-Regierung behauptet zwar, sie habe die ersten einhundert Tests durchführen lassen, diese seien negativ. Das Regime muss das Virus dennoch fürchten. An der Seite der syrischen Armee kämpfen Schiiten-Milizen aus Iran, Afghanistan, Pakistan und Libanon. Iran ist eines der am schwersten vom Coronavirus befallenen Länder - und die pakistanischen Behörden haben erklärt, dass einzelne ihrer infizierten Staatsbürger aus Syrien heimgekehrt seien.

Am Sonntag stellte Syrien alle Auslandsflüge ein. Gleichzeitig benutzt Damaskus die Angst vor der Pandemie, um die Aufhebung der Sanktionen zu fordern, die die USA und die EU verhängt haben. Die Verbündeten trügen Verantwortung für kommenden Corona-Opfer, weil sie mit den Sanktionen jede Bemühung zur Eindämmung der Pandemie behinderten, erklärte das Außenministerium.

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SZ vom 23.03.2020/jana
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