Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Darf in Zeiten der Pandemie gestreikt werden? Ist das Leben mit Corona nicht schon so schwer genug? Dürfen die Bus-, die U-Bahn- und die Straßenbahnfahrerinnen und -fahrer den Leuten das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist? Darf die Kita, die eben wieder geöffnet hat, wegen Streik schon wieder zusperren?
Wenn Helden streiken
Deutschland könnte in die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte rutschen, den Städten und Gemeinden brechen die Steuereinnahmen weg, das ganze Land ächzt unter den Folgen der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen - "und den Gewerkschaften fällt nichts Besseres ein, als die Beschäftigten in den Arbeitskampf zu schicken". So formuliert es das Handelsblatt, um dann die erwartbare Frage zu stellen, ob das nicht unverhältnismäßig und unverschämt sei. Aber das Handelsblatt beantwortet die Frage dann unerwartet - mit Nein. Das sei ganz und gar nicht unverschämt. Denn: Das Streikrecht gehört nun einmal zu den Grundrechten, "von denen schon genug durch die Viruspandemie eingeschränkt sind". Die kommunalen Arbeitgeber hatten eine Verschiebung der Tarifrunde abgelehnt "und darauf spekuliert, dass Verdi und Co coronabedingt nicht kampfbereit sind. Niemand sollte sich deshalb wundern, wenn die Gewerkschaften jetzt das Gegenteil beweisen wollen", schreibt das Handelsblatt.
Es streiken jetzt diejenigen, die als Corona-Helden gefeiert wurden - und die sich vom bloßen Beifall auf den Balkonen, vom öffentlichen Getätschel und vom politischen Gelobe nichts kaufen können. Deshalb werden die Warnstreiks der vergangenen Woche gewiss nicht die letzten gewesen sein.
Die Erfindung des Warnstreiks
Ein Streik stört. Das ist auch der Sinn eines Streiks. Aber die Deutschen streiken, anders als etwa die Franzosen, eigentlich nicht so gern. Der deutsch-französische Kabarettist Emmanuel Peterfalvi hat sich in der Rolle des TV-Reporters Alfons, der mit einem monströsen Püschel-Mikrofon durch die Sendungen läuft, darüber lustig gemacht: "In Deutschland wollt ihr einen Streik haben, der nicht stört. Deshalb hat der Deutsche den Warnstreik erfunden. Du streikst zwei, höchstens drei Stunden - und dann schnell wieder zur Arbeit. Drei Stunden bei uns in Frankreich die Arbeit niederlegen, das heißt bei uns Mittagspause".
Das klingt lustig. Aber ganz so läppisch sind die Warnstreiks im öffentlichen Dienst nicht. Die Streikenden ziehen Zorn auf sich; aber den Zorn können "Corona-Helden" besser aushalten als die Kollegen, die nicht in den Helden-Berufen arbeiten. Und sie können sich sagen, dass sie nicht nur für sich und für ihre Gehaltserhöhung streiken - sondern auch für das Streikrecht als solches.
Eine arbeitsrechtlich verdünnte Zeit?
Eine Pandemie darf keine gewerkschaftsreduzierte und arbeitsrechtlich verdünnte Zeit sein. Gerade in diesen Pandemie-Zeiten ist daher die Arbeit der Gewerkschaften besonders notwendig - weil, zum Beispiel, für akzeptable Bedingungen in der Kurzarbeit gekämpft werden muss; weil, zum Beispiel, die Sorge um den Arbeitsschutz noch wichtiger ist als sonst. Und im Übrigen: Die Arbeitgeber verzichten ja der Pandemie wegen nicht auf Betriebsverlagerungen und Entlassungen, im Gegenteil. Also muss eine Gewerkschaft ihre Kraft, auch ihre Kampfkraft, dagegensetzen können. Also braucht es gegebenenfalls auch Demonstrationen, also braucht es gegebenenfalls auch Streiks. Es darf keinen "Corona-Mechanismus" geben, auch nicht im Arbeitsrecht. Es darf nicht sein, dass arbeitnehmerfeindliche Maßnahmen, die sonst schwierig durchzusetzen wären, mit der Begründung "Corona" nun auf einmal ziemlich leicht durchgesetzt werden können.
Corona darf die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht an- und auffressen. Die Jubiläumsfeiern für diese Mitbestimmungsrechte sind Corona schon zum Opfer gefallen: Die deutsche Betriebsverfassung, in der diese Mitbestimmungsrechte formuliert sind, ist nämlich zu Beginn der Corona-Krise hundert Jahre alt geworden. Das war, das ist eigentlich ein Grund zum Feiern: die betriebliche Mitbestimmung ist ein Kernstück der sozialen Marktwirtschaft.
Hundert Jahre Betriebsverfassung
In einem Fachmagazin für das Personalwesen habe ich dazu einen Aufsatz gelesen mit der Überschrift: "100 Jahre Betriebsverfassung, alt aber rüstig". Alt aber rüstig! Das sollte ein Lob sein. Rüstig? Das ist ein Wort, das man üblicherweise in den Lokalzeitungen findet - im Text zu Bildern, auf denen der Bürgermeister einem Jubilar im Altersheim einen Geschenkkorb überreicht. Rüstig reicht nicht. "Rüstig" klingt nach Krückstock und Gehhilfe. Mit einem Betriebsverfassungsgesetz, das nur "rüstig" ist, bleiben Digitalisierung, Matrixstrukturen und Crowdworking legislative Fremdwörter. Weil sie aber zur Arbeitsrealität von heute gehören, muss ein Betriebsverfassungsgesetz sich ihnen stellen. Das verlangt mehr als Rüstigkeit. Das verlangt grundlegende Änderungen, nennen wir sie Updates. Das BGB und das StGB, beide sind noch älter als das Betriebsverfassungsgesetz, sind x-mal upgedated worden. Solche Updates braucht das Betriebsverfassungsrecht auch.
Zoom ist kein echter Ersatz
Ein kleines Update gab es schon - coronabedingt. Um die Handlungsfähigkeit des Betriebsrats auch in Zeiten der Kontaktbeschränkungen zu sichern, wurden virtuelle Sitzungen und Versammlungen erlaubt. Auch Betriebsversammlungen dürfen jetzt digital durchgeführt werden. Die Möglichkeit virtueller Sitzungen ist zunächst befristet bis zum 31. Dezember 2020. Man wird sich überlegen müssen, ob dies zeitlich verlängert oder sogar unbefristet erlaubt wird. Ein komplettes Zurückdrehen der digitalen Betriebsratsarbeit wird wohl kaum möglich sein. Die vollständige Digitalisierung der Gremienarbeit aber wohl auch nicht.
"Teams" und "Zoom" und Videokonferenzen werden im Moment gefeiert. "Endlich!" sagen viele, "endlich kommen die Leute darauf, dass man Verhandlungen auch via Bildschirm führen kann." Aber je länger der Ausnahmezustand währt, umso mehr wird auch spürbar, dass diese Art der Diskussion kein Ersatz ist, sondern ein Behelf. Videokonferenzen sind keine wirkliche Begegnung. Zur Begegnung gehört das Nebengespräch mit dem Nachbarn, die Verständigung über Blicke und Gesten, das informelle Gespräch in der Pause. Deshalb: So viel Präsenz wie möglich, so viel digital wie unbedingt nötig.
Entgrenzte neue Arbeitswelt
Verglichen mit anderen Problemen, die sich in der digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt stellen, ist die Frage, ob und wann und wie virtuelle Sitzungen per Zoom und Skype möglich sind, aber eine Petitesse. Die große Frage, die noch virulent sein wird, wenn die Corona-Krise vorbei ist, lautet so: Wie modernisiert man das Betriebsverfassungssystem, wie modernisiert man die Mitbestimmungs-Demokratie, wie macht man sie tauglich für globalisierte und digitalisierte Zeiten?
Das geltende Recht orientiert sich immer noch am Industriebetrieb mit Werkhalle und Stechuhr, in dem alle den gleichen Arbeitgeber haben. Aber das ist keine rundum zutreffende Beschreibung mehr.
Die Digitalisierung braucht einen Betriebsrat
Die Digitalisierung verändert alles, sie verändert den gesamten Wertschöpfungsprozess, sie verändert die Erfindung und die Entwicklung, das Marketing, den Einkauf, die Produktion und den Vertrieb, den Verkauf und die Entsorgung. Arbeitsverhältnisse werden völlig neu organisiert, Erwerbsarbeit findet immer häufiger außerhalb eines Betriebes statt. Immer mehr Aufgaben werden an Leiharbeitsfirmen und rechtlich Selbstständige ausgelagert, die Grenzen zwischen dem Arbeitnehmer- und dem Selbstständigen-Status werden fließend. In der bisherigen Welt der Gewerkschaften bleibt so kaum ein Stein auf dem anderen. Die Digitalisierung braucht einen Betriebsrat.
Wenn die fahrerlose Mobilität kommt, werden Taxi- und Busfahrer, Lieferanten, Lkw- und Gabelstaplerfahrer ihre Arbeit verlieren. Im Bereich der Dienstleistung wird künstliche Intelligenz massenhaft die Arbeit von Büroangestellten übernehmen. Heute arbeitet ein Entwickler in Hannover, Flensburg, Frankfurt oder Forchheim mit einem Kollegen in Dubai oder Mumbai zusammen an einem Projekt, sie schalten sich per Videokonferenz zusammen. Wie regelt man deren Arbeit auf verträgliche Weise? Bei der weltweit internetbasierten Arbeit vermengen sich Arbeitszeit und Freizeit. In Frankreich wurde deshalb eine Offline-Zeit eingeführt - da muss der Mitarbeiter irgendwann mal einfach vom Netz genommen werden.
Neue Leitplanken
Es müssen gesetzliche Leitplanken her für eine räumlich, zeitlich und funktional entgrenzte Arbeitswelt. Der Würzburger Arbeitsrechtsanwalt Bernd Spengler hat zum sogenannten "agilen Arbeiten" in einem Interview mit der Main-Post erklärt: "Agiles Arbeiten ist nicht nur, dass zusammengewürfelte Gruppen gemeinsam Projekte steuern und dem Unternehmen völlig egal ist, wann die arbeiten - Hauptsache sie werden fertig. Das geht weiter. Warum soll der Unternehmer künftig noch ein festes Gehalt zahlen? Erste Unternehmensberater schlagen vor: Zahlt allen zusammen einmal im Jahr die Summe X - dann sollen die Menschen sich selbst einschätzen, wie viel sie aus dem Pott kriegen. Das hat mit betrieblicher Lohngestaltung nicht mehr viel zu tun. Da muss man gesetzlich Grenzen ziehen".
Grenzen ziehen. Mit EU-Richtlinien die neue Arbeitswelt gestalten. Mich erinnert das an einen berühmten Satz im Roman "Der Leopard" von Giuseppe di Lampedusa. Der alte Fürst macht da seinem Neffen Tancredi Vorhaltungen, weil der sich für die neue Sache - für das demokratische Italien - engagiert. Und Tancredi antwortet mit einem Satz, der legendär wurde: "Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist."