Wandel im Nahen Osten und Nordafrika:Kochtöpfe und Demokratie

Der Nahe Osten und Nordafrika erwachen - doch ob der Umsturz zu demokratischer Ordnung oder anhaltendem Chaos führt, bleibt ungewiss. Auch der Westen ist gefordert.

Joschka Fischer

Als die demokratische Revolte in Tunesien das alte Regime erfolgreich vertrieben hatte, herrschte weltweit noch ungläubiges Staunen vor. Demokratie von unten in der arabischen Welt?

Wandel im Nahen Osten und Nordafrika: Junge Libyer in Bengasi, einem Zentrum der Demokratiebewegung. Im Osten des Landes riefen Aufständische am Wochenende einen libyschen Nationalrat aus. Eine tiefgreifende Transformation aber kann Jahrzehnte dauern.

Junge Libyer in Bengasi, einem Zentrum der Demokratiebewegung. Im Osten des Landes riefen Aufständische am Wochenende einen libyschen Nationalrat aus. Eine tiefgreifende Transformation aber kann Jahrzehnte dauern.

(Foto: AP)

Mit dem Sturz der autoritären Herrschaft Mubaraks in Ägypten wurde aus dem Staunen Gewissheit: Der Nahe und der Mittlere Osten waren erwacht und begannen, in die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts einzutreten. Bis dahin hatte die gesamte Region (mit Ausnahme Israels und der Türkei) daran kaum teilgenommen.

Ob das demokratische Erwachen in der arabisch-islamischen Welt tatsächlich von Dauer sein wird, ob wir lediglich den Wechsel an der Spitze autoritärer Regimes erleben werden, ob dieser Umsturz zur Demokratisierung oder Radikalisierung, zu demokratischer Ordnung oder anhaltendem Chaos führen wird - all das bleibt bis auf weiteres ungewiss. Klar ist jedoch bereits heute, dass der große Modernisierungsschlaf dieser weiten Region durch den Aufstand von unten für immer beendet ist. Sie wird niemals mehr so sein wie vor dem 11. Februar 2011.

Die Revolte wird kaum ein Land verschonen

Und die Revolte wird weitergehen und kaum ein Land dort verschonen, auch wenn der jeweilige Zeitpunkt ungewiss bleibt. Dies gilt ebenso für Iran wie Syrien und Saudi-Arabien, das dabei die schwierigsten Probleme aufwerfen wird. Auch Israel wird gut beraten sein, sich auf diesen Epochenbruch einzustellen und möglichst schnell zu einem Frieden mit den Palästinensern und mit Syrien zu kommen. Allerdings spricht wenig dafür, dass es in Jerusalem die dazu notwendige Weitsicht gibt.

Die Probleme sind (mit der Ausnahme Israels) fast überall dieselben: politische Unterdrückung, wirtschaftliche Rückständigkeit und große Armut (mit Ausnahme der kleineren Ölstaaten), mangelnde Bildung und Arbeitslosigkeit und ein großer demographischer Druck aufgrund einer sehr jungen, schnell wachsenden Bevölkerung.

Man konnte diese Analyse seit Jahren in den Berichten der UN-Entwicklungsorganisation (UNDP) finden. Hinzu kam die Inkompetenz der autoritären Regime, der Jugend in ihren Gesellschaften eine wirtschaftliche und soziale Perspektive zu liefern. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis dieses Pulverfass explodieren würde. Die allein offene Frage war nur: Wann?

Das Silicon Valley ist wichtiger als das Pentagon

Die Lunte bildeten die neuen Informationstechnologien des Internets und ein grenzüberschreitender Fernsehkanal wie al-Dschasira. Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass es nicht die amerikanische hard power à la Irakkrieg war, die den demokratischen Umsturz in dieser Region voranbrachte, sondern gerade die unter Bush und seinen Neocons so geschmähte soft power, Twitter und Facebook. Silicon Valley war wichtiger als das Pentagon. Der Boden war also gesät und gedüngt, die Instrumente waren am Platz für eine transarabisch-iranische Jugendrevolte für Freiheit und Demokratie. Gerade in dieser Region mangelt es an sehr vielem - nur nicht an jungen Menschen ohne Hoffnung und Perspektive.

Die Tage und Nächte auf dem Tahrir-Platz in Kairo, der Sturz Mubaraks durch eine demokratische Jugendrevolte, erinnerten zugleich an den Pariser Mai 1968 und an den Fall der Berliner Mauer 1989. Allerdings wäre es verfrüht, schon von einem Sieg der Freiheit zu sprechen. Ob es dazu kommt, wird ganz wesentlich auch von dem Verhalten des Westens abhängen, denn es geht nicht nur um den Sturz von Tyrannen und autoritären Herrschern, sondern um die tiefgreifende Transformation und Modernisierung ganzer Gesellschaften. Das ist eine gewaltige Aufgabe.

Verglichen mit dem Umsturz in Osteuropa 1989 gibt es im Nahen und Mittleren Osten 2011 keine von außen stabilisierenden Strukturen, wie die Nato und die Europäische Union, und keine politische Beitrittsperspektive zu solchen Gemeinschaften. Die Anstrengung muss aus den Gesellschaften selbst kommen - und das dürfte sie mit großer Wahrscheinlichkeit überfordern.

Die Transformation dauert länger als vermutet

Zudem weiß man aus den Erfahrungen nach 1989, dass erstens diese Phase sehr viel länger dauerte und sehr viel teurer war als vermutet; zweitens, dass es sehr viel mehr Transformationsverlierer gab als erhofft; und drittens, dass die Akteure des demokratischen Umsturzes nicht unbedingt diejenigen sein werden, die den demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau durchsetzen können. Hinzu kommt die Erfahrung der Orangefarbenen Revolution in der Ukraine von 2004, die an der Zerstrittenheit, Inkompetenz und Korruption ihrer Führer wenige Jahre später gescheitert ist.

Nimmt man all diese Erfahrungen und Bedingungen zusammen, dann wird der Westen, vor allem aber Europa, gut beraten sein, auf eine langfristige Hilfe zum demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau der erneuerten Länder des Nahen und Mittleren Ostens zu setzen - und natürlich auch auf Partnerschaften mit den demokratischen Kräften dort. Denn der Westen kann jetzt nicht einfach mit der Realpolitik weitermachen wie bisher.

Beides erfordert materielle und immaterielle Großzügigkeit (Reisefreiheit war nach 1989 von entscheidender Bedeutung!), viel Ausdauer (Jahrzehnte und nicht Jahre!) und nicht nur wohlfeile Lippenbekenntnisse. Folglich wird eine solche Politik teuer werden, sehr teuer sogar, und das ist in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise alles andere als populär. Wenn die Demokratie jedoch nicht in den Kochtöpfen ankommt, droht sie zu scheitern!

Wirtschafts- und Finanzhilfen, Öffnung der Märkte der Europäischen Union und der USA, strategische Energieprojekte, Reisefreiheit, Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen, Zusammenarbeit der Universitäten und vermehrt Studienplätze - all das wird der Westen liefern müssen, wenn er zum Erfolg dieser demokratischen Erneuerung im Nahen und Mittleren Osten beitragen will.

Sollte dieser demokratische Aufbruch allerdings scheitern, dann wird dies mit Sicherheit zur Radikalisierung in dieser Region führen, denn ein Zurück zum Status quo ante wird es nicht geben. Der Geist des Wandels ist aus der Flasche entwichen.

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