Wandel im Alltag:Kleine Fluchten

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Was vor Kurzem als Zukunft galt, macht Corona zur Vergangenheit. Die Distance Economy verdrängt die Sharing Economy.

Von Thomas Fromm

Wenn der Online-Zimmervermieter Airbnb mitten in der Corona-Krise einen fulminanten Börsenstart hinlegt, dann heißt das wohl: Die Pandemie ist zwar mächtig genug, große Teile der Wirtschaft einfach abzuschalten. Aber wo noch eine Menge Investoren unterwegs sind, die auf sehr viel Geld sitzen, von dem sie nicht wissen, wohin damit, da ist selbst das Virus machtlos.

Ausgerechnet Airbnb, ausgerechnet jener nicht ganz unumstrittene Online-Dienst, der von der lukrativen Untervermietung von Privatwohnungen in ohnehin schon überteuerten Großstädten lebt und der seit seiner Gründung 2008 vor allem Verluste einfuhr, hat in der vergangenen Woche den größten Börsengang des Jahres hingelegt. Die Aktie startete zuerst mit einem Ausgabepreis von 68 Dollar und landete dann bei einem ersten Kurs von 146 Dollar. Pandemie? Die Tourismus-Branche in ihrer schwersten Krise seit Menschengedenken? Egal. Die Milliarden sind da, sie müssen raus.

Die Jüngeren sollten für die Abkehr vom Individualverkehr stehen, nun fahren viele von ihnen mehr Auto als zuvor

Und so wetten Anleger auf die Zukunft, auf eine Zeit nach Corona. Und darauf, dass wir unseren Alltag, so wie wir ihn kannten, bald wieder zurückbekommen werden. Dabei ist die Frage nicht nur, wann es wieder so wird wie früher. Sondern, ob es überhaupt wieder so wird. Die Innenstädte wurden zuletzt immer leerer, die Menschen bestellten immer mehr online. Seit fast einem Jahr schon sitzen viele Menschen zu Hause und sprechen mit Kollegen auf dem Computerbildschirm, steigen in kein Flugzeug mehr, fahren nur noch sehr selten ICE, dafür jetzt aber wieder öfter allein im Auto. Fast jeder dritte unter 30-Jährige, das ergab eine in diesen Tagen veröffentlichte Umfrage, sagt, dass er oder sie das Auto häufiger nutze als vor der Pandemie. Ausgerechnet jene Gruppe, von der man lange sagte, dass sie das Ende des Individualverkehrs einläuten würde.

Es wurde ein Jahr, in dem man nicht ins Theater ging, nicht in Konzerte und lieber netflixte, als mit anderen im Kino zu sitzen. Und in dem man sein Restaurant-Essen immer öfter nach Hause holte, um es alleine und ohne Freunde einzunehmen. Vielen Menschen geht es im Augenblick so wie jener Bekannten aus Berlin, die neulich sagte: Irgendwie sei ihre 60-Quadratmeter-Wohnung gerade alles - Küche, Restaurant, Büro, Schlafplatz, Kulturzentrum, Yoga-Studio. Und sie frage sich jetzt, ob man noch in Berlin wohnen muss, wenn es Berlin im Moment ohnehin nicht mehr gibt. Es ist so wie mit der Frage, ob man in nächster Zeit ausgerechnet Appartements in Rom, Barcelona oder Berlin über Airbnb untervermieten kann, um dabei seinen Schnitt zu machen. Vermutlich eher nicht. Dabei sah anfangs alles noch so aus, als habe man es nur mit vielen kleinen Alltagsrevolutionen zu tun. Einige sprachen im Frühjahr sogar noch von einer willkommenen Entschleunigung, auf die sie seit Langem gewartet hätten. Inzwischen aber hat es den Anschein, als würde eine Revolution durchs Land ziehen und den Alltag auf lange Sicht verändern.

Die Fans des Teilens haben ein Problem - wer Büros teilt, teilt vielleicht auch Aerosole

Als im März Corona über die Welt kam, steckte die Wirtschaft schon mittendrin in einem großen Wandel. Die sogenannte Sharing Economy galt als das Zukunftsmodell einer modernen Wirtschaft, in der nicht mehr jeder alles besitzen muss. Autos? Können dank Carsharing-Konzepten geteilt werden. App runterladen, bestellen, einsteigen, fahren, irgendwo abstellen, der Nächste bitte. Oder gleich digital zur Fahrgemeinschaft verabreden. Fünf Menschen, ein Auto. Der kalifornische Fahrdienstleister Uber wurde zum Anti-Taxi-Unternehmen und machte aus Klempnern, Lehrern und Schichtarbeitern Freizeit-Taxler. Alte und neue Autos, Altbau-Etagen in gentrifizierten Stadtteilen hipper Metropolen, selbst Büro-Lofts in Berlin, Tel Aviv und San Francisco wurden auf einmal geteilt von Menschen, die sich weder kannten, geschweige denn jemals zusammengearbeitet hätten. Man nannte die Orte, an denen digitale Nomaden und andere Freiberufler zusammenkamen, "Coworking-Spaces". Die Anbieter solcher Ad-hoc-Büros haben nun ein Problem, genauso wie die Wohnungs-, Auto- und anderen Teiler: Sich mit anderen ins Büro zu setzen oder ins Auto ist schon seit Längerem nicht mehr angesagt. Wer Büros teilt, teilt vielleicht auch Aerosole. Wer Wohnungen teilt, teilt eventuell auch seinen Virus. Die Sharing Economy war bis Jahresbeginn die Verheißung auf eine bessere Zukunft. Jetzt wird sie gerade verdrängt, und zwar durch eine neue Art von "Distance Economy". Die neue Distanz wird hergestellt, indem man zu Hause bleibt und den größten Teil seines Alltags über den Computer erledigt.

Videokonferenzen von Zoom oder Microsoft Teams, Messenger-Dienste, gestreamtes Kino im Wohnzimmer, Online-Yoga. Irgendwas muss man ja machen, wenn die Kinos geschlossen sind und der Sportverein auch. Und wenn man mal weg muss, dann besser auf die sichere Tour. Niemand braucht mehr ein eigenes Auto? Na ja. Alleine im Auto finden gerade viele besser als mit Dutzenden anderen im Großabteil der Bahn. Coworking im Loft mit gemeinsamer Mikrowelle und Tischtennisplatte? Dann schon lieber Home-Office. Die Distanz-Ökonomie ist bei genauerer Betrachtung keine wirkliche Revolution des Alltags, eher eine Art Gegenrevolution, denn sie bedeutet ja den Rückzug ins Private. Ob das so bleibt?

Als die Menschen im Frühjahr keine Lust mehr hatten, immer nur allein zu Hause zu sein, trafen sich die ersten zu Konzerten in alten Autokinos. Statt Applaus gab es Lichthupen. Im niedersächsischen Schüttorf versammelten sich am 30. April 2020 abends 500 Menschen in 250 Autos (mehr als zwei Personen pro Auto waren nicht erlaubt), um eine dreistündige Autodisco streng nach Corona-Hygieneregeln zu feiern. Der niederländische Hardstyle-DJ Devin Wild legte auf, es gab Shishas und Chips statt Bier und Cocktails, und die Partyleute blinkten, hupten und orgelten mit ihren Scheinwerfern.

Hupen in den Mai statt Tanz in den Mai, so geht Stimmung in der Distance Economy.

Solch eine Autodisco muss man wirklich nicht mögen. Aber sie ist eine dieser improvisierten Fluchten, die zeigen, dass die Menschen irgendwann doch wieder etwas teilen wollen, und wenn es nur eine Party ist. Vielleicht teilen sie eines Tages ja auch wieder gerne Wohnungen, Autos und Loft-Büros. Oder sogar Zugabteile, Kinos, Klamottenläden und kleine Restaurants.

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