Walter Scheel über Würde und Anerkennung:"Ich wünsche mir mehr Würde und Anerkennung"

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Ich wünsche mir, dass unsere alten Menschen mehr Würde und Anerkennung erleben. Eine zentrale Rolle würde dabei der Jugend zufallen. Sie in den Pflegebereich mehr einzubeziehen, wäre mir eine Herzensangelegenheit. Machen wir es doch attraktiv, die Alten zu pflegen: Geben wir helfenden Jugendlichen einen Bonus für Stipendien für spätere Zeiten! Garantieren wir demjenigen, der ein Jahr in einem Pflegeheim hilft, einen Ausbildungsplatz, vor allem aber: Wirken wir daran mit, den Beruf des Pflegers attraktiver zu machen. Ich möchte noch erleben, dass junge Schulabsolventen ebenso stolz den Berufswunsch Pflegekraft äußern wie etwa Bankkaufmann. Ich möchte erleben, dass Pflegeeinrichtungen und Heime wie große Konzerne in Deutschland sich die Besten der Besten heraussuchen können.

So könnten wir daran mitwirken, einen Mangel in unserer Gesellschaft abzustellen. Es ist doch ein Skandal, dass Deutschland, dieses wohlhabende Land, kein Geld hat, seine alternde Bevölkerung auch außerhalb von Familien würdevoll bis zum Tode zu versorgen! Sind es nicht gerade unsere alten 90- oder 100-jährigen Menschen, die Deutschland zu dem gemacht haben, was es heute ist? Sollten wir für diese Menschen nicht genügend menschliche Alters- und Pflegeheime haben, wo Personalmangel ein Fremdwort ist, dagegen aber ein würdevolles Leben mit dem Recht auf ein würdevolles Sterben selbstverständlich?

Schämen wir uns eigentlich nicht dafür? Was sind das so oft für katastrophale Zustände in Alters- und Pflegeheimen, von der persönlichen Geringbetreuung aus Personalmangel ganz zu schweigen, finanziert über ein akribisches

Abrechnungssystem nach Modulen, wo jede kleinste "Dienstleistung" der Pfleger am Monatsende berechnet wird! Unhaltbar, solche Verhältnisse! Unsere Gesellschaft krankt auch in diesem Bereich immer mehr an einer menschlichen Verrohung.

Es haben sich die Zeiten geändert - nicht jeder wird von der Familie aufgenommen und gepflegt, abgesehen davon, dass jeder Familienangehörige über kurz oder lang einfach seelisch und körperlich überfordert ist. Und die Zeiten, da man noch in geräumigen Häusern alt werden konnte, sich also einfach eine Pflege ins Haus zum Wohnen nehmen konnte, sind auch vorbei; die meisten Menschen verkleinern sich räumlich im Alter aus praktischen und finanziellen Gründen. Abgesehen davon, dass inzwischen eine Generation heranwächst, die keine Kinder oder sonstige Familie als Rückhalt hat.

Die Gesellschaft, vor allem aber die Politik hat die Pflicht, sich der Würde der Alten anzunehmen und für sie einen für ganz Deutschland geltenden Lebensentwurf zu formulieren. Im Übrigen tun sich Politiker damit einen Gefallen. Schon an mir sieht jeder Politiker: Wir werden alle älter. Die demographische Entwicklung geht auch an Politikern nicht vorbei, ob sie das gut oder schlecht finden.

Bei all dieser Diskussion fällt mir der Satz unseres großen Vordenkers Immanuel Kant ein. Ich möchte die Politik auffordern, nicht nur die Pflege, sondern den gesamten Umgang mit der älteren Bevölkerung nach dieser Formel fortzuentwickeln - zum Wohle der Menschen: "Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahre."

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