Er hatte es den Polizisten ganz genau vorgemacht, wie er sein Opfer erschossen hat. Der Kasseler Rechtsradikale Stephan Ernst war aufgestanden bei seiner Vernehmung, er hatte beide Arme ausgestreckt, als wenn er noch einmal die Pistole halten würde. Er hatte den Finger gekrümmt, als liege der am Abzug, und hatte gesagt: "Ich habe die Waffe auf Kopfhöhe gehalten und abgedrückt." Aus ein, vielleicht eineinhalb Meter.
Sein Opfer Walter Lübcke saß in jener Nacht des 1. Juni 2019 auf seiner Terrasse, vor seinem Haus in dem Ort Istha bei Kassel, er hielt sein Smartphone in der Hand und wollte gerade eine Reise buchen, für sich und seine Frau. Es kam nicht mehr dazu. "Er hat mich noch gesehen", sagt Stephan Ernst. "Er hat meinen Schatten gesehen." Aber Lübcke, der Regierungspräsident von Kassel, konnte nicht mehr reagieren. Es war kurz vor halb zwölf Uhr nachts, als ihn die Kugel in den Kopf traf. Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik wurde ein Politiker mutmaßlich von einem Rechtsradikalen ermordet.
Prozess um Mord an Walter Lübcke:"Schwer erträglich" für die Familie des Opfers
In Frankfurt hat das Verfahren gegen Stephan Ernst begonnen, der den Kasseler Regierungspräsidenten erschossen haben soll. Der Richter wendet sich mit einem ungewöhnlichen Appell an den Angeklagten.
Das Video vom Geständnis war mehr als vier Stunden lang, es hatte keinen Schnitt, es zeigte Ernst weinend, seufzend, ächzend und unbeeinflusst von den Vernehmungsbeamten. Und es zeigte auch den Satz, den Ernst am Ende sagte: "Das, was ich getan habe, es tut mir unendlich leid."
Nun hat sich das Oberlandesgericht Frankfurt auch das Video der zweiten Vernehmung von Ernst angesehen - das Video, in dem er das Geständnis widerrufen hat. Nach der neuen Version hat sich die Tat ganz anders abgespielt: Stephan Ernst, 46, war nicht allein, sondern zusammen mit seinem Kumpel Markus H., ebenfalls ein Rechtsradikaler. Und die beiden hätten Lübcke nur eine Abreibung verpassen wollen, weil der sich für die Unterbringung von Flüchtlingen eingesetzt hatte. Schlagen wollten sie ihn vielleicht, auch treten, auf jeden Fall bestrafen, so sicher sei man sich nicht gewesen. Aber als sie dann vor Lübcke standen, habe der gerufen: "Verschwinden Sie!" Da sei aus der Pistole, die Markus H. hielt, ein Schuss gefallen. Versehentlich.
In der ersten Vernehmung berichtete Ernst, was er im Kopf hatte, als er auf Lübcke zulief: die Todesschreie von zwei skandinavischen Touristinnen, denen der IS den Kopf abgeschnitten hatte. Das Video davon hatte sich Ernst immer wieder angesehen, er hatte auch diese Morde Lübcke angelastet, so wie alles, was islamistische Terroristen an Gewalttaten verübten. Als Ernst davon sprach, sah man, wie er sich wand unter dem Druck der Erinnerung.
Nun sieht man ihn wieder sitzen in dem gleichen Vernehmungszimmer wie beim Geständnis im Juni 2019, im Polizeipräsidium Kassel. Es ist nun Januar 2020 und diesmal sitzt ein Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vor ihm, dazu ein Oberstaatsanwalt und sein Anwalt Frank Hannig. Diesmal redet Stephan Ernst nicht frei, er verliest eine Erklärung, wie alles gewesen sein soll, in Wahrheit.
Von zwei Seiten seien er und Markus H. auf die Terrasse gestürmt, Lübcke habe in seinem Gartenstuhl gesessen, er habe sich aufrichten wollen, aber Ernst habe ihn mit der Hand zurückgedrückt - so erklärt er seine DNA-Spuren auf Lübckes Hemd. "Beweg' dich nicht", habe er zu Lübcke gesagt. Und dann: "So, Zeit zum Auswandern." Eine Anspielung auf einen Satz Lübckes, der bei einer Bürgerversammlung vier Jahre zuvor rechten Störern empfohlen hatte, sie könnten ja auswandern, wenn sie die Werte des Landes nicht schätzten. Nach dem Schuss seien sie zum Auto gerannt. Markus H. habe gesagt: "Wir sind im Arsch. Wir müssen cool bleiben und pokern bis zuletzt." Dann hätten sie vereinbart, sofort alle Waffen verschwinden zu lassen.
Auch am dritten Verhandlungstag vermeidet Ernst Blickkontakt zu seinem ehemaligen Kumpel
Die Version, die Ernst nun vorträgt, ist nach Ansicht der Bundesanwaltschaft sorgsam entlang der Ermittlungsergebnisse gestrickt. Nun muss das Gericht prüfen, welche der beiden Versionen glaubhafter ist. Zumal Markus H. abstreitet, bei der Tat dabei gewesen zu sein und es auch nur DNA-Spuren von Ernst am Tatort gibt. Seit Ernst seinen Freund als Mittäter belastet, ist die Freundschaft abgekühlt. Früher waren sie gemeinsam beim Schießtraining und immer wieder auf Veranstaltungen der AfD.
Auch an diesem, dem dritten Verhandlungstag sehen sich die beiden früheren Freunde nicht an. Aber sie sehen gebannt dem Widerruf des Geständnisses zu, so wie die Witwe und die Söhne von Lübcke. Und sie hören auch, wie der Ermittlungsrichter die neue Version abklopft. "Haben Sie Herrn H. nicht zur Rede gestellt, warum er geschossen hat?", fragt der Richter. "Ich habe ihn ja gefragt", antwortet Ernst. "Das klingt jetzt so teilnahmslos", entgegnet der Richter. "Ihr Freund hat geschossen, und Sie sitzen seit sieben Monaten in U-Haft. Da flippe ich doch aus." - "Ich habe ihn doch gefragt, warum er geschossen hat", antwortet Ernst. "Er sagte, er wollte es nicht." Wieder hakt der Richter nach. Die beiden seien doch geübt gewesen im Schießen, auch mit der Tatwaffe. Habe sich schon vorher mal ein Schuss gelöst? "Könnt' ich jetzt nicht sagen", sagt Ernst.
Er soll die Situation am Tatort nachstellen. Man löst ihm die Handschellen. Der Oberstaatsanwalt setzt sich auf einen Stuhl. "Ich bin jetzt mal Walter Lübcke", sagt er. Ernst tritt an ihn heran und zeigt, wie er ihn in den Gartenstuhl gedrückt hat. "Warum haben Sie ihm nicht gleich eine geknallt?", fragt der Richter. Ernst denkt nach. "Ich war ein bisschen unsicher." Warum er die Waffe behalten habe? Die Waffe, die so viel Unglück angerichtet habe, über das er so erschüttert war? "Oder waren Sie gar nicht so erschüttert?" Und dann die Frage aller Fragen: Warum habe Ernst einen Mord gestanden, wenn es doch nur ein Unfall war? "Es ist doch offensichtlich, dass da was nicht stimmt", sagt der Ermittlungsrichter in dem Video. "Ich glaube Ihnen das heute nicht."
Damit die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt Ernst mehr Glauben schenken, kündigten seine Anwälte an, er werde sich nach der Sommerpause ausführlich schriftlich vor Gericht äußern.