Süddeutsche Zeitung

Wahlsystem:In den USA ist Stimme ist nicht gleich Stimme

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Hillary Clinton haben mehr Amerikaner gewählt als Donald Trump. Doch das Wahlmänner-Prinzip verzerrt das Ergebnis. Warum das veraltete System trotzdem nicht abgeschafft wird.

Von Andrea Bachstein und Sebastian Jannasch, München

Für Anhänger Hillary Clintons macht ein Umstand deren Niederlage besonders schwer verdaulich: Sie hat mehr Wählerstimmen als Donald Trump geholt, 59,9 Millionen, und er 59,7 Millionen nach Stand vom Donnerstag. Doch Amerikaner bestimmen ihren Präsidenten nicht direkt in nationalen Wahlen, ihre Stimmen gehen in jedem Bundesstaat an Wahlmänner. Dieses Electoral College wählt einige Wochen später den Präsidenten.

Wie viele der insgesamt 538 Wahlmänner ein Bundesstaat hat, hängt von seiner Bevölkerungszahl ab: Das große Kalifornien mit 39 Millionen Einwohnern steuert 55 Stimmen bei, das kleine Delaware mit 900 000 Menschen verfügt über drei Wahlmänner. Im Verhältnis ist das allerdings viel mehr: Ein kalifornischer Wahlmann repräsentiert mehr als 700 000 Menschen, einer aus Delaware weniger als die Hälfte. So übersetzt sich der mit mehr als 60 Prozent deutliche Sieg Clintons in Kalifornien nicht ganz.

Das Wahlmänner-System stammt aus den Gründerjahren der USA, aus der Verfassung von 1787. Die Väter der Verfassung fürchteten schon damals den Einfluss von Demagogen. Ein Gremium aus erfahrenen Wahlmännern als Puffer zwischen Wähler und Präsident hielten sie für nötig. Ein weiterer Grund war, dass bevölkerungsreiche Staaten keine zu große Dominanz entwickeln sollten. Und in Zeiten ohne Internet, Flugzeuge oder auch nur Telefon und Telegraf ließen sich auch logistische Probleme auf dem großen Territorium vermeiden.

Dass derjenige mit den meisten Stimmen die Wahl verlieren kann, ist die Hauptkritik am Wahlmänner-System. Das ist allerdings seit 1824 erst fünfmal passiert, 150 Jahre habe es kein Problem gegeben, sagt der Politikwissenschaftler Stephan Bierling von der Universität Regensburg, da entsprachen sich Stimmenmehrheit und Wahlmännerverhältnis. Erst 2000 mit der Wahl von Präsident George W. Bush hätten auch Politologen das Problem wirklich entdeckt.

Kritiker glauben, ein demokratisches Grundprinzip wird verletzt

Es war der knappste Ausgang, den es je gab, und alles hing von den 25 Wahlmännern Floridas ab. Wochenlang wurden im Sunshine State die Stimmen nachgezählt. Schließlich stoppte der Supreme Court das, und Bush wurde mit 537 Stimmen mehr zum Sieger gegen Al Gore. Umstritten ist das System aber auch, weil bei knappen Wahlausgängen wie jetzt fast die Hälfte der Stimmen verfällt - the winner takes it all, der Gewinner kriegt alles.

Nur in den Bundesstaaten Maine und Nebraska gibt es Modelle, die Wahlmänner unterschiedlicher Parteien zulassen: Über einen Teil von ihnen entscheiden die Ergebnisse in den Wahlbezirken, nicht das Gesamtresultat im Bundesstaat. Doch es gibt nur selten Wahlmänner aus zwei Parteien. 2008, bei der Wahl von Barack Obama passierte das in Nebraska, nun bekam Trump in Maine einen von vier Wahlmännern.

Die Kritiker des Systems führen zudem an, dass mit den Wahlmännern ein demokratisches Grundprinzip verletzt werde - one man, one vote (jede Stimme zählt gleich viel). Und sie wenden ein Argument der Gründerväter für die Wahlmänner gegen dieses System: Es verzerre den Wahlkampf, eben weil es kleinen Staaten und ländlichen Regionen relativ gesehen mehr Gewicht gibt und damit mehr Aufmerksamkeit der Kandidaten als Ballungsgebieten. Da könnte auch das politische Programm eines Kandidaten auf diese besonders zu umwerbenden Bundesstaaten zugeschnitten werden.

Doch wirklich proportional, sagt der Politologe Bierling, sei kein Wahlsystem, nicht Britanniens Mehrheitssystem, und Amerikaner könnten die Fünf-Prozenthürde nicht verstehen.

Ginge es aber nicht direkter als mit dem umständlichen, ergebnisverzerrenden Wahlmännersystem? Die Mehrheit der Amerikaner findet ja, und das seit Generationen. Das Gallup-Meinungsforschungsinstitut fragte schon 1948 danach, da traten der siegreiche Demokrat Harry S. Truman und der Republikaner Thomas E. Dewey an. Und 53 Prozent der Befragten antworteten damals, ja, man könne das System ersetzen.

Ein Drittel der Amerikaner weiß so gut wie nichts über das Wahlsystem

Die Frage stellte sich erneut nach der Präsidentenwahl 2000, Bush gegen Gore. 61 Prozent der Befragten antworteten, eine direkte Wahl ohne Electoral College fänden sie besser. Es kam aber auch heraus, dass die Bürger das System gar nicht besonders gut kannten: Nur ein Drittel gab an, sie würden es "sehr gut" verstehen, fast genauso viele wussten so gut wie nichts darüber.

Die Ablehnung wuchs: 63 Prozent befürworteten 2013 die Abschaffung. Trump twitterte 2012, das Kollegium sei "eine Katastrophe für die Demokratie". Die New York Times zitiert nun einen Politikwissenschaftler der Texas A&M Universität, George C. Edwards III: Das System sei "unerträglich in einer Demokratie". 700 Änderungsvorschläge gab es schon, etwa einfach die landesweite Stimmenmehrheit entscheiden zu lassen. Stephan Bierling sagt, heute würde man so ein System auf keinen Fall mehr einführen. Aber, historisch gewachsen und seit dem 18. Jahrhundert mitgeschleppt, lasse es sich nicht mehr abschaffen. Die Hürden sind zu hoch: Zur Verfassungsänderung braucht es im Kongress eine Zweidrittelmehrheit und eine Dreiviertelmehrheit der Bundesstaaten. Die haben sich bisher nie gefunden.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2016
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