Interview am Morgen: Wahlrechtsreform:"Verzerrung des Wählerwillens"

Wahlkabinen

Das von der Koalition durchgesetzte neue Wahlrecht sei "grottenschlecht", sagt Britta Haßelmann.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Klagen die Grünen in Karlsruhe gegen das neue Wahlrecht? Grünen-Politikerin Haßelmann erläutert, warum sie das Gesetz für verfassungsrechtlich problematisch hält - und warum sie so oft mit FDP und Linken zusammenarbeitet.

Interview von Robert Roßmann, Berlin

Britta Haßelmann ist Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag und Wahlrechtsexpertin ihrer Partei. In den Bundestagsdebatten zu dem Thema war sie die schärfste Kritikerin der Koalition.

SZ: Die Linke hat angekündigt, gegen das neue Wahlrecht vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen. Eine solche Normenkontrollklage muss aber von 25 Prozent der Bundestagsabgeordneten unterstützt werden. Die Linke braucht also die Hilfe von FDP und Grünen. Werden Sie sich an einer Klage beteiligen?

Haßelmann: Das neue Wahlrecht ist erst vergangene Woche verabschiedet worden. Wir prüfen jetzt in Ruhe, ob wir klagen. So etwas muss man sorgfältig abwägen. In jedem Fall kann man aber sagen, dass das neue Wahlrecht grottenschlecht ist. Es erfüllt noch nicht einmal seinen Zweck, den Bundestag zu verkleinern. Der nächste Bundestag wird vermutlich sogar noch größer als der aktuelle.

Interview am Morgen

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Das alleine ist aber noch kein Verstoß gegen die Verfassung. Welche Punkte in dem neuen Wahlrecht könnten ein Grund sein, nach Karlsruhe zu ziehen?

Zum einen sollen künftig drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichssitze für die anderen Parteien kompensiert werden. Nach den jetzigen Umfragen werden davon einseitig CDU und CSU profitieren. Vor allem aber kommt es dadurch zu einer Verzerrung des Wählerwillens. Der Bundestag ist dann nicht mehr entsprechend dem Zweitstimmenverhältnis der Parteien zusammengesetzt. Das ist ein Bruch mit dem bisherigen System. Außerdem könnte das jetzt von der Koalition beschlossene modifizierte Sitzkontingentverfahren verfassungsrechtlich problematisch sein.

Was ist das für ein Verfahren?

Union und SPD wollen eine teilweise Verrechnung von Überhangmandaten, die eine Partei in einem Bundesland gewinnt, mit Listenmandaten dieser Partei in anderen Bundesländern. Das senkt zwar die Gesamtzahl der Bundestagsmandate. Es stellt sich aber die Frage, ob dadurch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen in den Bundesländern berührt ist. Zum Beispiel dann, wenn die Hamburger CDU auf Listenplätze verzichten muss, um Überhangmandate der CDU Baden-Württemberg auszugleichen. All das müssen wir uns jetzt genau anschauen.

Sie haben schon mehrmals zusammen mit den Linken und der FDP in Karlsruhe geklagt. Ist das eine Koalition in der Opposition?

Nein. Aber es ist eine nötige Reaktion auf erhebliche Defizite: Wir sind zum zweiten Mal hintereinander mit einer sogenannten großen Koalition konfrontiert. Die hat immer wieder schlechte Gesetzentwürfe präsentiert. Es ist unendlich bedauerlich, dass Union und SPD uns damit immer wieder zwingen, nach Karlsruhe zu gehen. Sie beachten unserer Ansicht nach Parlamentsrechte und grundlegende demokratische Fragen nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit. FDP, Linke und wir haben in vielen Gebieten unterschiedliche Positionen - aber wenn es um grundlegende Parlaments- und Demokratiefragen geht, arbeiten wir zusammen. Dadurch ist uns einer meiner größter politischen Erfolge gelungen.

Was war das?

Die Koalition wollte Menschen mit Behinderung, die in Betreuung sind, nicht an der Europawahl 2019 teilnehmen lassen. Das betraf mehr als 80 000 Bürgerinnen und Bürger. Wegen eines Eilantrags von FDP, Linken und uns in Karlsruhe hat das Bundesverfassungsgericht das Vorgehen der Koalition gestoppt - und alle durften wählen. Union und SPD hätten ihnen dieses Grundrecht vorenthalten.

Das ist bisher aber der einzige gemeinsame Erfolg von FDP, Linken und Grünen in Karlsruhe.

Das stimmt. Aber es laufen noch zwei Klagen. Zum einen versuchen wir die maßlose Erhöhung der Parteienfinanzierung durch Union und SPD rückgängig zu machen. Die Koalition hat die Obergrenze bei die Parteienfinanzierung auf einen Schlag von 165 auf 190 Millionen Euro angehoben. Demokratische Parteien sind ein elementarer Bestandteil unserer Demokratie und müssen gut ausgestattet sein, um ihrem Auftrag nachzukommen. Aber es gibt eine besondere Begründungs- und Darlegungspflicht, wenn man den Rahmen der Parteienfinanzierung verändert. Und diese Pflicht, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aus guten Gründen auferlegt hat, haben Union und SPD mit ihrer leichtfertigen Anhebung nicht erfüllt. Das schadet dem Ansehen der Politik und der Akzeptanz des Bundestags. Außerdem klagen Linke, FDP und wir in Karlsruhe gegen das Bayerische Polizeiaufgabengesetz. Mit dem Gesetz werden Menschen leichtfertig unter Generalverdacht gestellt.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat wegen dieser gemeinsamen Klage von Linken, FDP und Grünen von einer "humoresken Truppe" gesprochen, die schon durch ihre Zusammenstellung eine hemmungslose Orientierungslosigkeit zeige.

Britta Haßelmann, Grüne, Wahlrecht

Britta Haßelmann ist Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag und Wahlrechtsexpertin ihrer Partei.

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Herr Söder sollte sich erinnern, dass er mit seiner bayerischen Grenzpolizei auf Klage der bayerischen Grünen vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof im Kern gescheitert ist.

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