Die parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen haben sich am Mittwoch auf ein neues Wahlrecht verständigt. Mit Ausnahme der Linken billigten alle Fraktionen den Beschluss. Demnach sollen künftig alle Überhangmandate für eine Partei durch Ausgleichsmandate für die anderen Fraktionen kompensiert werden.
Das Innenministerium wurde beauftragt, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Er soll dann Anfang 2013 verabschiedet werden. Durch den nun beschlossenen Ausgleich werden im nächsten Bundestag vermutlich mehr Abgeordnete sitzen. Im Regelfall gab es bisher 598 Parlamentarier. Hätte das neue Wahlrecht bereits bei der Wahl 2009 gegolten, säßen jetzt 671 Abgeordnete im Bundestag.
Der Bund der Steuerzahler kritisierte die Einigung scharf. Der Verband erklärte, es handele sich um einen faulen und teuren Kompromiss, der das Parlament unnötig aufblähe. Aber hätte es wirklich Alternativen zu der jetzt beschlossenen Lösung gegeben? Ein Überblick:
Warum musste jetzt überhaupt etwas geändert werden?
Das Bundesverfassungsgericht hatte Ende Juli das geltende Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Unter anderem monierte es die verzerrende Wirkung der Überhangmandate auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Die Richter entschieden, dass künftig nur noch 15 Überhangmandate ohne Ausgleich zu Gunsten der anderen Fraktionen zulässig seien. Bei der Bundestagswahl 2009 hatte es 24 Überhangmandate gegeben.
Warum werden jetzt alle Überhangmandate ausgeglichen?
Das Verfassungsgericht hatte die Grenze von 15 zulässigen Überhangmandaten weitgehend willkürlich gesetzt und damit quer durch die Fraktionen für Erstaunen gesorgt. Dies lag auch daran, dass die Richter keinen Weg aufgezeigt haben, wie man die neue Regel in die Praxis umsetzen kann. Nach welchen Kriterien hätte man etwa bei der Wahl 2009 entscheiden sollen, welche 15 der 24 Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben - und für welche neun Mandate es Kompensationssitze für die anderen Fraktionen gibt?
Dass jetzt alle Überhangmandate ausgeglichen werden, liegt aber nicht nur an diesen praktischen Problemen, sondern auch an den Forderungen der Opposition. SPD, Grüne und Linke verlangten einen Totalausgleich. Weil die Union an einer überparteilichen Lösung interessiert war, musste sie diese Bedingung der Opposition akzeptieren. Sie verliert durch den jetzt vereinbarten Totalausgleich einen erheblichen Vorteil: Bei der Wahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die Union.
Hätte man die Überhangmandate nicht einfach verbieten können, statt sie auszugleichen?
Nein, denn sie sind eine automatische Folge anderer Regeln im Wahlrecht. Das zeigt das Beispiel Baden-Württemberg: Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte die CDU dort 34,4 Prozent der Zweitstimmen. Die Christdemokraten hätten damit eigentlich nur Anspruch auf 27 Abgeordnete gehabt. Die CDU gewann in dem Land aber 37 der 38 Wahlkreise. Den 37 Siegern konnte man den Einzug ins Parlament nicht verwehren. Deshalb sitzen jetzt zehn baden-württembergische CDU-Abgeordnete mehr im Bundestag als der Partei eigentlich zugestanden hatten.
Hätte man die Überhangmandate nicht auch ohne Vergrößerung des Bundestags komplett ausgleichen können?
Dies wäre möglich gewesen, die Grünen hatten auch einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Demnach wäre Parteien, die in einem Bundesland Überhangmandate gewonnen haben, in anderen Ländern eine gleich große Zahl an dort gewonnenen Listenmandaten gestrichen worden. Damit konnten sich die Grünen aber nicht durchsetzen. Vor allem die Union wies auf die regionalen Verwerfungen hin, die dieses Modell zur Folge gehabt hätte.
Bei der Bundestagswahl 2009 hätte etwa die nordrhein-westfälische CDU wegen der vielen CDU-Überhangmandate in Baden-Württemberg keinen einzigen Abgeordneten mehr über ihre Landesliste in den Bundestag entsenden können. Außerdem gäbe es ein Problem mit Bayern: Überhangmandate der CSU könnten mit keiner anderen Landesliste verrechnet werden. Die Christsozialen treten ja nur im Freistaat an. Die Grünen wollten dieses bayerische Problem mit einer Kappung der Direktmandate lösen.
.
Wäre die Kappung der Direktmandate eine Alternative?
Die CSU hat 2009 alle 45 bayerischen Wahlkreise gewonnen. Nach dem Zweitstimmenergebnis hätten ihr nur 42 Sitze zugestanden, deshalb eroberte sie drei Überhangmandate. Im Kappungsmodell dürften statt aller 45 nur 42 der gewählten Direktkandidaten in den Bundestag einziehen. Die drei Bewerber mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis blieben draußen.
Das hätte die Abgeordneten Johannes Singhammer, Herbert Frankenhauser und Dagmar Wöhrl getroffen. Dieses System wäre jedoch mindestens den Bürgern in diesen drei Wahlkreisen schwer zu vermitteln: Wahlsieger würden nachträglich zu Verlierern. Dies wollten die meisten anderen Parteien nicht hinnehmen. Für sie sind die direkt gewählten Abgeordneten ein wichtiges Scharnier zwischen Bürgern und Bundestag.
Hätte es eine Möglichkeit gegeben, schon das Entstehen von Überhangmandaten zu verhindern?
Es gibt zwei relevante Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten deutlich zu reduzieren: Die Rückkehr zum Einstimmen-System sowie eine erhebliche Verringerung der Zahl der Direktmandate.
Was spricht gegen größere Wahlkreise?
Bisher werden die regulär 598 Abgeordneten des Bundestags je zur Hälfte über die Direktwahlkreise und über die Landeslisten der Parteien bestimmt. Würde man nun den Anteil der Direktmandate verkleinern, käme es naturgemäß deutlich seltener zu Überhangmandaten. Für diese Lösung war es jetzt aber zu spät.
Ein Neuzuschnitt von Wahlkreisen dauert in der Regel mehrere Jahre - und in vielen Bezirken sind die Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 bereits aufgestellt. Außerdem sind in einigen ländlichen Regionen die Wahlkreise bereits jetzt sehr groß. In fast allen anderen europäischen Staaten kommen weniger Bürger auf einen Abgeordneten als in Deutschland.
Was spricht gegen das Einstimmen-System?
Bis 1953 hatte jeder Bürger nur eine Stimme. Diese war sowohl für die Wahl des Direktkandidaten am Ort als auch für die Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag entscheidend. In diesem Einstimmen-System war also kein Splitting möglich. Dieses Splitting ist jedoch die Hauptursache für die Entstehung von Überhangmandaten.
Ein Abrücken vom Zwei-Stimmen-System würde die Zahl der Überhangmandate also deutlich verringern, völlig verhindern könnte es solche Mandate aber nicht. Außerdem lehnen die kleinen Parteien jedes Einstimmen-System ab, weil sie dabei schlechter abschneiden würden. Die FDP hatte beispielsweise bei der Wahl 2009 fast 15 Prozent der Zweitstimmen aber nur 9,4 Prozent der Erststimmen erhalten.
Warum haben die Linken gegen das neue Wahlrecht gestimmt?
Die Linken hatten einen eigenen Vorschlag präsentiert, bei dem der Bundestag im Regelfall nicht so vergrößert worden wäre, wie durch das jetzt beschlossene Wahlrecht. Dies wäre unter anderem dadurch erreicht worden, dass Parteien mit Überhangmandaten in einem Land weniger Listenmandate in anderen Ländern bekommen hätten. Deshalb lehnten die großen Fraktionen dieses Modell ab.
Wie funktioniert das neue Wahlrecht?
Zunächst werden die 598 regulären Mandate entsprechend der Bevölkerungsgröße auf die Länder verteilt. Nach der Wahl wird dann in jedem Bundesland dieses ermittelte Sitzkontingent auf die einzelnen Parteien nach ihrem Zweitstimmenanteil in dem Land verteilt. Dabei werden nur Landeslisten von Parteien berücksichtigt, die bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen oder mindestens drei Direktmandate errungen haben.
Falls dann in einem Bundesland Überhangmandate für eine Partei anfallen, verbleiben diese dort - zusätzlich zu den Sitzen, die dem Land eigentlich zustehen. Anschließend wird auf Bundesebene die Zahl der Mandate für die anderen Parteien solange erhöht, bis das Verhältnis der Zweitstimmen trotz der Überhangmandate wieder hergestellt ist. Am Ende werden die so auf Bundesebene ermittelten zusätzlichen Mandate auf die Landeslisten der Parteien verteilt.
Ein Beispiel: Die CDU hat bundesweit 200 Sitze nach Zweitstimmen errungen, die SPD 100. Dazu kommen bei der CDU noch 20 Überhangmandate. Damit das Größenverhältnis zwischen den Parteien gewahrt bleibt, wird die Zahl der Sitze im Bundestag solange erhöht, bis die SPD im Vergleich zur CDU wieder die Hälfte der Mandate hat. Die CDU käme dann auf 220 und die SPD auf 110 Sitze.