Süddeutsche Zeitung

Wahlrecht:Die Koalition ist sich nur darin einig, uneins zu sein

Die Fraktionen von Union und SPD können sich nicht auf einen Gesetzentwurf zur Verkleinerung des Bundestags verständigen. Jetzt soll der Koalitionsausschuss den Streit lösen.

Von Robert Roßmann, Berlin

Eigentlich wollten Union und SPD die Sommerpause nutzen, um sich auf einen Kompromiss beim Wahlrecht zu verständigen - denn die Zeit drängt. Leitlinien des Europarats sehen vor, dass das Wahlrecht in den zwölf Monaten vor einer Abstimmung nicht mehr geändert werden soll. Und die nächste Bundestagswahl findet voraussichtlich im September 2021 statt. Doch am Dienstag wurde unübersehbar, dass Union und SPD bei ihren Gesprächen keinen Millimeter vorangekommen sind. Die beiden Seiten überzogen sich sogar mit Schuldzuweisungen. Dabei ist das Problem, das die Koalition lösen sollte, gewaltig. Die Regelgröße des Bundestags liegt bei 598 Sitzen. Derzeit gibt es aber 709 Abgeordnete, nach der nächsten Wahl könnten es sogar mehr als 800 sein. Und die Bundestagsverwaltung hat schon jetzt enorme Probleme, alle Abgeordneten samt ihrer Mitarbeiter unterzubringen.

Mit jedem Tag "verspielen wir Vertrauen und Glaubwürdigkeit," sagt Carsten Linnemann

"Mit jedem Tag, an dem wir uns nicht auf eine Wahlrechtsreform einigen, verspielen wir Vertrauen und Glaubwürdigkeit", sagt der Chef der Mittelstandsunion, Carsten Linnemann (CDU). In diesem Punkt waren sich SPD und Union am Dienstag noch einig. Doch das war es dann auch schon. Unionsfraktionsvize Thorsten Frei klagte, die SPD scheine "entgegen aller Beteuerungen" überhaupt "kein ernsthaftes Interesse zu haben, den Bundestag zu verkleinern". Alle Angebote der Union, "den Rahmen für die dringend erforderliche Wahlrechtsreform im Sommer festzuzurren", seien von den Sozialdemokraten "in den Wind geschlagen" worden. Jetzt sei die SPD "am Zug, die dringend notwendige Reform zu ermöglichen".

Diese Vorwürfe wollten sich die Sozialdemokraten aber nicht gefallen lassen. Sie beklagten, der Union gehe es vor allem darum, sich einen Vorteil bei Wahlen zu verschaffen.

Den Streit soll jetzt der Koalitionsausschuss lösen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler Olaf Scholz und die anderen Mitglieder der Runde wollen sich am 25. August treffen. Der Koalitionsausschuss müsse "einen Pflock einschlagen", denn "eine Null-Lösung wäre fahrlässig", sagte Unionsfraktionsvize Andreas Jung. Doch bisher deutet nichts darauf hin, dass es in der Spitzenrunde zu einer substantiellen Einigung kommen kann. Denn die Positionen von Union und SPD liegen meilenweit auseinander.

Über eine Reform des Wahlrechts wird schon seit der Bundestagswahl 2013 gesprochen. Die SPD-Fraktion hat sich aber erst im März diesen Jahres zu einem Vorschlag durchringen können; sie will die Zahl der Mandate auf 690 deckeln. Um das zu erreichen sollen - wenn nötig - nicht alle Wahlkreissieger auch ein Mandat bekommen. Die Abgeordneten von CDU und CSU brauchten sogar bis Ende Juni, um sich auf ein Modell zu verständigen. Die Union schlägt jetzt vor, dass die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert wird. Außerdem soll es eine teilweise Verrechnung von Überhangmandaten einer Partei mit Listenmandaten dieser Partei in anderen Bundesländern geben. Und bis zu sieben Überhangmandate sollen nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Mit diesem Modell hätte es bei der Wahl 2017 statt 709 nur 642 Sitze gegeben.

Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, sagte der Süddeutschen Zeitung, der SPD-Vorschlag sei "das einzige Modell, das eine verlässliche Begrenzung für den nächsten Bundestag garantiert", es sei "fair, schnell umsetzbar und verfassungsfest". CDU und CSU hätten dagegen "ihren monatelangen internen Streit nur durch einen Formelkompromiss überdecken können, der seriös nicht mehr umsetzbar ist". Statt eines erforderlichen vollständigen Neuzuschnittes der Wahlkreise plane die Union, "willkürlich einzelne Wahlkreise zu streichen - ein solches politisches Manöver ist verfassungswidrig". Außerdem versuche die Union, "sich durch zahlreiche unausgeglichene Überhangmandate einen einseitigen parteipolitischen Vorteil zu verschaffen". Das sei "unlauter" und verzerre "das maßgebliche Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl".

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SZ vom 19.08.2020
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