Wahlrecht-Urteil des Supreme Court:Das Biest lebt

White speaks to reporters after the U.S. Supreme Court struck down part of a federal law designed to protect minority voters, at the court's building in Washington

"Empörende Entscheidung": Charles White vom afroamerikanischen Bürgerrechtsverband NAACP kritisiert in Alabama den Supreme Court.

(Foto: REUTERS)

Der Supreme Court sieht die Diskriminierung dunkelhäutiger Bürger an Amerikas Wahlurnen als Relikt der Vergangenheit. Doch der Rassismus ist ein Biest, das noch atmet. Wenn der Oberste Gerichtshof der USA trotzdem so tut, als wären Amerikaner gleich, verkennt er die Realität. Gleichheit muss erst noch hergestellt werden.

Ein Kommentar von Nicolas Richter, Washington

Vor 50 Jahren hat die Polizei in Birmingham, Alabama, eine friedliche Demonstration schwarzer Bürger aufgelöst, indem sie ihre scharfen Hunde auf die Menge losließ. Die Szenen hat man in einem Stadtpark Birminghams mit Skulpturen verewigt, die Tiere mit gefletschten Zähnen, die Menschen, die nach Deckung suchen.

In seinem Urteil zum Wahlrecht verhält sich der Supreme Court jetzt wie ein Museumsdirektor: Er sieht die Diskriminierung, Schikanierung und Einschüchterung dunkelhäutiger Bürger an Amerikas Wahlurnen als Relikt der Vergangenheit, erklärt diesen staatlichen Rassismus zu einem bronzenen Ausstellungsstück, das kalt ist und erstarrt. Er äußert sich auch immer skeptischer zur affirmative action, der gezielten Bevorzugung von Minderheiten, die einigen Schwarzen einen besseren Zugang etwa zu Hochschulen ermöglicht.

Aber der Rassismus in Amerika ist ein Biest, das noch atmet. Es ist gezähmt worden, aber es lebt; es ist nicht mehr so wild wie einst, aber es ist listiger. Mehr als die Hälfte der Amerikaner bekennt sich heute immer noch dazu, abfällig über Schwarze zu denken und zu sprechen, und fast alle Schwarzen können davon erzählen, wie sehr sie das ein Leben lang spüren.

Der Staat und seine Diener agieren freilich nicht mehr so feindselig und plump wie einst die rassistische Polizei in Birmingham. Diskriminierung kann heute viele Gesichter haben, auch scheinheilige. Auf der Straße sind es Polizeikontrollen, die regelmäßig mehr Schwarze treffen als Weiße. An den Urnen müssen Wähler in bestimmten Bezirken stundenlang Schlange stehen, oder sich mit großem Aufwand ausweisen, was gerade Bürger aus einfachen Schichten überfordert. Auch das trifft Schwarze meist härter als Weiße.

In den Südstaaten sind die Verantwortlichen solcher Schikanen oft weiße Republikaner. Sie müssen nicht offen rassistisch sein; manche wollen bloß eine Wählergruppe abschrecken, die überwiegend für die Demokraten stimmt. Das Ergebnis ist freilich dasselbe: Es ist rechtsstaatswidrig und benachteiligt schwarze Bürger. So kommt die Diskriminierung heute oft daher - sie beteuert, farbenblind zu sein, aber sie macht jener Schicht das Leben schwer, zu der überdurchschnittlich viele Schwarze gehören: der ärmeren, weniger gebildeten.

Gleichheit muss manchmal hergestellt werden

Barack Obama, der erste schwarze Präsident, schweigt meist über diese Realität. Wenn er spricht, rügt er seine "Brüder" dafür, dass sie sich mit mittelmäßigen Leistungen begnügen oder ihre Familien verlassen. Zur Wahrheit gehört es aber auch, dass es Schwarze schwerer haben, nach oben zu gelangen - weger ihrer wirtschaftlichen Lage und wegen der Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind.

Wer sich zur Gleichheit bekennt, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er behandelt alle gleich. So tut es der Supreme Court. Er behandelt nicht nur Schwule wie Heteros, sondern auch den Süden wie den Norden, die Schwarzen wie die Weißen, er verlangt etwa einen möglichst "rassenneutralen" Zugang zu Universitäten.

Die zweite Möglichkeit besteht hingegen darin, die Gleichheit überhaupt erst herzustellen, indem man zum Beispiel anerkennt, dass Wahlschikanen gegen dunkelhäutige, ärmere Amerikaner vielerorts, besonders aber im Süden fortbestehen. Und dass es für ein schwarzes Kind in Amerika viel schwieriger ist als für ein weißes, eine Hochschule zu erreichen.

Es ist leider nicht zu erwarten, dass sich die Parlamente in Washington und in den Südstaaten für die zweite Möglichkeit einsetzen. Sie sind alle von Republikanern beherrscht, die sich demografisch und kulturell von Schwarzen, Latinos und Asiaten bedroht fühlen. Ihre Ressentiments gegen Menschen anderer Hautfarbe dürften noch lange lebendig bleiben.

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