Wahlrecht:"Kungelei - das Volk wird beiseitegeschoben"

Der frühere Verfassungsrichter Mahrenholz über verfassungswidrige Wahlen und den Machtwillen von Schwarz-Gelb.

Wolfgang Jaschensky

Ernst Gottfried Mahrenholz war zwischen 1981 und 1994 Richter am Bundesverfassungsgericht, sieben Jahre davon als Vorsitzender des zweiten Senats und Vizepräsident des Gerichts. Mahrenholz ist seit 1950 Mitglied der SPD.

Wahlrecht: Streitpunkt Überhangmandat: Die deutschen Verfassungsrichter gestatten eine verfassungswidrige Bundestagswahl.

Streitpunkt Überhangmandat: Die deutschen Verfassungsrichter gestatten eine verfassungswidrige Bundestagswahl.

(Foto: Foto: ddp, dpa; Montage: sueddeutsche.de)

sueddeutsche.de: Das Bundesverfassungsgericht hat vergangenes Jahr festgestellt, dass das deutsche Wahlrecht verfassungswidrig ist. Dennoch wählen die Bundesbürger am Sonntag nach diesem Recht. Bereitet Ihnen das Kopfschmerzen?

Ernst Gottfried Mahrenholz: Ja. Das Volk ist ja nur an einem Tag alle vier Jahre wirklich Volk, nämlich dann, wenn es den Bundestag wählt. Bei dieser Wahl entscheiden wir, wie die deutsche Politik in den nächsten vier Jahren aussehen soll. Aber wir Wähler haben es mit einem verfassungswidrigen Wahlrecht zu tun. Gibt es Überhangmandate - und das ist in hohem Maße zu befürchten -, ist das Wahlergebnis nicht mehr Ausdruck des Wählerwillens. Und entscheiden gar die Überhangmandate darüber, wer die Mehrheit gewinnt, entspricht die Parlamentsmehrheit nicht mehr der Mehrheit der Wählerstimmen.

sueddeutsche.de: Wie konnte es dazu kommen?

Mahrenholz: Das Gericht hat grundsätzlich angeführt, es müsste vor dem Juni 2011 kein neues Wahlrecht beschlossen werden. Aber die Grünen haben doch gezeigt, dass es problemlos möglich gewesen wäre, noch vor der Bundestagswahl ein verfassungskonformes Wahlrecht auf den Weg zu bringen. Der Gesetzesvorschlag, den die Grünen eingebracht haben, hätte die wesentlichen Bedenken der Verfassungsrichter beseitigt.

sueddeutsche.de: Der Vorschlag scheiterte. An der Union, an der FDP - aber auch der SPD.

Mahrenholz: Union und FDP wollten an die Sache nicht ran, weil sie befürchten, dass sie die von ihnen angestrebte Mehrheit vielleicht nur mit Hilfe von CDU-Überhangmandaten erreichen. Dennoch ist gerade das Verhalten der Liberalen merkwürdig. Denn die FDP tritt ja sonst gern als Wahrer freiheitlicher Bürgerrechte auf.

sueddeutsche.de: Welche Fehler hat die SPD gemacht?

Mahrenholz: Die SPD hat eine ausgesprochen schizophrene Rolle gespielt. Der Justitiar der SPD hat eine flammende Rede für den Vorstoß der Grünen gehalten und am Ende der Rede aus Gründen der Koalitionstreue empfohlen, gegen den Entwurf zu stimmen.

sueddeutsche.de: Sie waren selbst 13 Jahre Verfassungsrichter. Was könnte Ihre Nachfolger bewogen haben, dem Gesetzgeber eine so lange Frist zu geben?

Mahrenholz: Schwer zu sagen. Denn das Grundgesetz befiehlt unnachsichtig, jetzt, im Jahr 2009, entsprechend der Grundsätze der Gleichheit, Freiheit und Allgemeinheit zu wählen. Und das Gericht hat auch nicht gesagt, es darf dem Bundestag egal sein, ob das Volk auf verfassungswidriger Grundlage wählt.

Die Fehler der Richter und das Legitimitätsproblem

sueddeutsche.de: Wie hätte das Urteil denn aussehen müssen?

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Mahrenholz: Die Diagnose des Gerichts war ja überzeugend und schonungslos gegenüber dem für verfassungswidrig erklärten Text. Nur hätten die Richter keine Frist setzen dürfen. Dann hätte der Bundestag keine Ausrede gehabt. Denn klar ist doch, dass der Bundestag unter dem Grundgesetz steht.

sueddeutsche.de: Wen machen Sie denn für das Dilemma verantwortlich? Das Bundesverfassungsgericht oder Schwarz-Gelb?

Mahrenholz: Die Schuldfrage ist einfach zu klären: Das Gericht hat zwar einen für mich fragwürdigen Spielraum gelassen. Aber das Problem ist doch, dass ein Gesetzentwurf vorlag, der rechtzeitig den Bedenken des Gerichts Rechnung getragen hat. Und dann ignorieren die maßgeblichen Parteien vorsätzlich diesen Gesetzentwurf, nur damit die Union ihre Überhangmandate bekommt.

sueddeutsche.de: Die Bundestagswahl könnte erstmals eine Regierung hervorbringen, deren Mehrheit sich auf Überhangmandate stützt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat angekündigt, von dieser Möglichkeit auch Gebrauch zu machen, sollte nur so eine Mehrheit mit der FDP möglich sein. Was würde das für die Legitimität der künftigen Bundesregierung bedeuten?

Mahrenholz: Eines möchte ich klar sagen: Es wären dann alle Gesetze und alle Regierungshandlungen gültig, auch wenn Frau Merkel sich auf Überhangmandate stützt. Aber eine solche Regierung müsste mit dem Vorwurf leben, dass Schwarz-Gelb verhindert hat, dass der Bundestag nach dem Willen des Volkes zusammengesetzt ist.

sueddeutsche.de: Nun wettern Sozialdemokraten gegen die Pläne von Merkel und Westerwelle, mit Hilfe von Überhangmandaten ein Regierung zu bilden. Glauben Sie, dass die SPD zögern würde, diese Machtoption zu nutzen, wenn sie sich ihnen böte?

Mahrenholz: Kaum. Die SPD besteht nicht aus Engeln - und die Versuchung der Macht spielt immer eine Rolle. Nur eines hätte die SPD wohl kaum fertiggebracht: Ein Gesetz zu verhindern, das verfassungsgemäße Wahlen ermöglicht hätte. Über der ganzen Kungelei wird doch das Volk beiseitegeschoben. Es wählte 2005 einen Bundestag, dem es mehrheitlich jetzt gleichgültig ist, ob dieses Volk gemäß der Verfassung wählen darf. Aber da ist nicht einfach eine Masse von Wählern, die sich nicht wehren können gegen solche Zumutungen, sondern da ist ein Volk und vom ihm geht die Staatsgewalt aus. Doch dieser Satz bleibt auf dem Papier, wenn durch Parteienkalkül die Zusammensetzung des Bundestages nicht dem Wählerwillen entspricht.

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