Süddeutsche Zeitung

Wahlrecht:Im Plenarsaal wird es eng

Der neue Bundestag hat deutlich mehr Abgeordnete als jemals zuvor. Das liegt auch an der schwachen Union.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Für Platz eins hat es nicht gereicht, aber das war absehbar. Um zum größten Parlament der Welt zu werden, hätte der Bundestag am Nationalen Volkskongress in Peking mit knapp 3000 Abgeordneten vorbeiziehen müssen. Aber mit 709 Sitzen dürfte der Bundestag nun weltweit auf dem zweiten Rang stehen, jedenfalls kennt der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen kein weiteres Parlament dieser Größenordnung. Hätte die AfD nicht drei Direktmandate in Sachsen errungen, läge man sogar bei 720. Die Volkskammer in Nordkorea - falls man sie denn überhaupt zu den Parlamenten zählen will - soll 687 Abgeordnete haben.

Die Schwäche der Union treibt die Zahl der Überhangmandate hoch

Schuld an der Aufblähung des Bundestags, der zuletzt 631 Abgeordnete hatte, ist das 2013 geänderte Wahlrecht - eine Reform, die vom Bundesverfassungsgericht angestoßen worden war. Es ging um die sogenannten Überhangmandate. Sie fallen an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktkandidaten in den Bundestag bringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustünde. Früher hatte man das immer als eine kleine Prise Mehrheitswahlrecht im eigentlich als Verhältniswahl ausgestalteten deutschen System hingenommen: Nicht nur die Parteistimme, auch die direkte Stimme für einen Kandidaten sollte Wirkung erzielen. Aber 2012 vollzog das Verfassungsgericht einen Schwenk und begrenzte die Zahl der Überhangmandate auf höchstens 15. Der Gesetzgeber ging noch einen Schritt weiter und verfügte: Der Überhang wird komplett ausgeglichen.

Die Folge ist ein kompliziertes System, nach dem der Ausgleich berechnet wird. Den Maßstab dafür setzt in diesem Fall die CDU, die auch relativ gesehen über die größte Zahl an Überhangmandaten verfügt. Nach Behnkes Angaben dürften das etwa 36 sein - die offiziellen Zahlen will der Bundeswahlleiter erst an diesem Dienstag veröffentlichen. Diese Zahl muss man etwa mit dem Faktor drei multiplizieren, dann kommt man auf die Gesamtzahl der zusätzlichen (Überhang- und Ausgleichs-)Mandate von 111. Die FDP beispielsweise, die kein einziges Direktmandat errungen hat, kommt so auf fünfzehn zusätzliche Sitze.

Der Hauptgrund für die Explosion der Volksvertretung ist das schlechte Abschneiden der Union. Wenn die größte Partei sich von der absoluten Mehrheit entfernt, wächst die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten. Das zeigt der Vergleich zu 2013. Damals wurde bereits nach dem neuen Wahlrecht gewählt, aber man verzeichnete nur gut 30 zusätzliche Mandate, weil die Union klar über 40 Prozent lag. Durch den Absturz auf 33 Prozent hat sich die Zahl der Überhangmandate deutlich erhöht - und wird durch den Hebel des Ausgleichs vervielfältigt.

Sollte sich das derzeitige Parteiensystem aus geschrumpften Volksparteien und vier Zehn-Prozent-Kandidaten so verstetigen, dann wird die hohe Abgeordnetenzahl kein Einzelfall bleiben. Behnke mahnt daher, das Wahlrecht zu reformieren - etwa, indem man die Zahl der Wahlkreise verringert. Denn dass mehr Abgeordnete auch mehr Demokratie bedeuten, diese Formel kann man wohl nicht aufstellen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3682524
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.09.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.