Die Ankündigungen waren an Deutlichkeit kaum zu überbieten. CSU-Chef Markus Söder verurteilte den Gesetzentwurf der Ampelkoalition zur Verkleinerung des Bundestags als "verfassungswidrig", CDU-Chef Friedrich Merz als "inakzeptabel". CSU-Generalsekretär Martin Huber warf der Ampel sogar eine "organisierte Wahlfälschung" vor, die ihn an "Schurkenstaaten" erinnere. Und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, ein Gesetzentwurf, der "so krass den Wählerwillen missachtet", müsse "am Schluss natürlich vor dem Verfassungsgericht landen". Angesichts dieser Äußerungen galt es als sicher, dass die Union in Karlsruhe klagen wird. Doch jetzt gibt es überraschend ein Problem.
Für eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht bedarf es der Unterstützung von mindestens 25 Prozent der Bundestagsabgeordneten. Das sind derzeit 184. Früher hätte die Unionsfraktion diese Zahl locker zusammengebracht. Doch seit dem Einbruch der Unionsparteien bei der Bundestagswahl stellen CDU und CSU nur noch 197 Abgeordnete. In den Treffen einiger CDU-Landesgruppen am Montagabend und der Sitzung der gesamten Fraktion am Dienstagnachmittag zeigte sich, dass es zahlreiche CDU-Abgeordnete gibt, die den Furor ihrer CSU-Kollegen bei Weitem nicht im selben Maß teilen. Und dass deshalb noch gar nicht klar ist, ob es zu einer Klage in Karlsruhe kommen wird.
Eine Klage gegen eine Bundestagsverkleinerung könnte schlecht ankommen
Viele CDU-Abgeordnete ärgern sich noch immer über die brachiale Weise, mit der die CSU in der vergangenen Legislaturperiode wirksame Lösungen zur Verkleinerung des Bundestags verhindert hat. Die CSU hatte damals außerdem eine Sonderregelung bei den Überhangmandaten durchgesetzt, von der sie profitiert. Im Bundestag sitzen jetzt 736 Abgeordnete, dabei liegt die Normgröße nur bei 598. Das Parlament ist damit so groß wie nie zuvor in seiner Geschichte.
Angela Merkel und Wolfgang Schäuble hatten in der vergangenen Legislaturperiode im CDU-Präsidium mehrmals darauf hingewiesen, dass die Union Gefahr laufe, beim Thema Bundestagsverkleinerung in die Defensive zu geraten, wenn sie nicht rechtzeitig selbst handele. Jetzt sind CDU und CSU in der Opposition - und haben keinen Hebel mehr in der Hand, Einfluss auf die Regeln zu nehmen. Das Wahlrecht kann im Bundestag mit einfacher Mehrheit geändert werden.
Der Ton, in dem CSU-Generalsekretär Huber den Gesetzentwurf der Ampel verurteilt hat, wird bis in die CDU-Spitze hinein als unpassend erachtet. Außerdem weisen mehrere CDU-Abgeordnete in Gesprächen darauf hin, dass eine Klage der Union gegen das Ampel-Gesetz bei den Bürgern als eine Klage gegen die Verkleinerung des Bundestags wahrgenommen werden und deshalb schlecht ankommen könnte. Zudem sei gar nicht sicher, dass man die Klage gewinnen werde.
Hinzu kommt, dass es auch im geltenden Wahlrecht Unwuchten gibt. Unionsfraktionsvize Mathias Middelberg wies Teilnehmerangaben zufolge in der Sitzung des Fraktionsvorstandes darauf hin, dass die CDU in seinem Landesverband Niedersachsen je 60 000 Stimmen einen Bundestagsabgeordneten bekommen habe, bei der CDU Baden-Württemberg hätten aber 44 000 Stimmen gereicht.
Merz und Dobrindt schreiben Brief an die Ampel
Angesichts dieser Lage scheint jetzt auch die CSU vorsichtiger zu werden. In seiner jüngsten Äußerung zu dem Thema sagte Alexander Dobrindt nur noch: "Die Klage ist eine Option." Außerdem hat Dobrindt zusammen mit Merz den Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und FDP einen Brief geschrieben, er liegt der Süddeutschen Zeitung vor.
Darin beschweren sich Dobrindt und Merz zwar darüber, dass die Ampelkoalition mit ihrem Gesetzentwurf ohne vorherige Beteiligung der Union an die Öffentlichkeit gegangen sei - dabei sollten Wahlrechtsänderungen doch von einer breiten Mehrheit getragen werden. Außerdem erklären Merz und Dobrindt, dass sie nicht bereit seien, "einem Wahlrecht zuzustimmen, das die Übernahme eines gewonnenen Wahlkreismandats grundlegend in Frage stellt". Die Unionsfraktion sei "der Überzeugung, dass ein Wahlgesetz, das einen im Wahlkreis vom Volk direkt gewählten Kandidaten den Einzug in den Deutschen Bundestag verweigert, gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der Unmittelbarkeit der Wahl und das Demokratie-Prinzip verstößt".
Dobrindt und Merz kündigen in dem Brief trotzdem keine Klage gegen den Gesetzentwurf der Ampelkoalition an. Stattdessen bieten sie SPD, Grünen und FDP gemeinsame Gespräche über "das weitere Vorgehen" an.
Die Ampelkoalition will alle Überhang- und Ausgleichsmandate abschaffen
In den vergangenen zwanzig Jahren ist der Bundestag immer größer geworden. Das lag an den Überhang- und Ausgleichsmandaten. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Damit die anderen Parteien dadurch nicht benachteiligt werden, gibt es seit der Bundestagswahl 2013 auch Ausgleichsmandate. Der Gesetzentwurf der Ampelfraktionen sieht nun einen radikalen Schnitt vor. Es soll künftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben. Dadurch wird der Bundestag immer seine Normgröße von 598 Abgeordneten haben. Dadurch kann es aber passieren, dass ein Kandidat, der die meisten Stimmen in einem Wahlkreis erzielt, trotzdem nicht in den Bundestag einziehen darf.
Ein Beispiel: Wenn die CSU in Bayern alle 46 Direktmandate gewinnen würde, nach ihrem Zweitstimmenergebnis aber lediglich Anspruch auf 41 Sitze im Bundestag hätte, würden die fünf Wahlkreissieger mit dem niedrigsten Erststimmenergebnis kein Bundestagsmandat bekommen. Die Ampelkoalition hält das für hinnehmbar - auch deshalb, weil es in Deutschland inzwischen Abgeordnete gibt, die ihren Wahlkreis mit weniger als 20 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Die Zahl der Bundestagswahlkreise in Deutschland - es sind derzeit 299 - will die Ampelkoalition nicht verändern. Dadurch wird ein komplizierter Neuzuschnitt der Wahlkreise vermieden.
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In ihrem Brief an die Fraktionsvorsitzenden der Ampelkoalition schlagen Merz und Dobrindt stattdessen die Einführung eines Grabenwahlrechts vor. Die Hälfte der Abgeordneten solle über die Wahlkreise gewählt werden, "die andere über die Landeslisten der politischen Parteien", heißt es in dem Schreiben. Hätte dieses Wahlrecht bereits bei der vergangenen Bundestagswahl gegolten, hätten CDU und CSU heute einen deutlich höheren Anteil an Abgeordneten im Parlament - Grüne, FDP, Linke und AfD einen erheblich kleineren. Durch den Gesetzentwurf der Ampelkoalition würden sich die Mehrheitsverhältnisse dagegen nur minimal verändern.