Süddeutsche Zeitung

Bundestagswahl:Was diesmal anders ist

Wer wird Deutschland demnächst regieren? Ein Blick auf die aktuellen Schätzungen des SZ-Wahlmodells zeigt: Selten war es so schwierig, das Ergebnis einer Bundestagswahl vorherzusagen.

Von Benedict Witzenberger

Diese Bundestagswahl ist eine ganz besondere. Angela Merkel war nicht nur die erste Kanzlerin, sie ist auch die erste Person, die dieses Amt verlässt, ohne noch einmal anzutreten. Außerdem ist es diesmal noch schwieriger als sonst, den Ausgang vorherzusagen. Die großen Parteien liegen sehr nahe in den Umfragen beieinander, es gibt zahlreiche Optionen für Koalitionen .

Die Süddeutsche Zeitung kooperiert in diesem Jahr mit dem Projekt zweitstimme.org. Politikwissenschaftler mehrerer deutscher Universitäten versuchen darin, mithilfe von Umfragen, politischen Einstellungen und anderen Erklärungsfaktoren den Wahlausgang sowohl auf Bundes- als auch auf Wahlkreisebene vorherzusagen. Dieses Modell ist eine Vereinfachung und liefert doch spannende Einblicke.

Fast 160 Wahlkreise sind für jeweils dominierende Partei eine sichere Bank. Dort gewinnen in der Regel bestimmte Parteien schon sehr lange. Früher waren das hauptsächlich CDU, CSU und SPD.

In diesem Jahr kommen grundsätzlich in den Wahlkreisen vermehrt auch andere Parteien in Frage. Aktuell sieht es für die Grünen und die AfD so aus, als könnten sie recht sicher Direktmandate erringen.

Auch die Grünen und die AfD dürften Direktmandate gewinnen

Die Grünen zum Beispiel haben gute Chancen in den Wahlkreisen Stuttgart I, Freiburg oder München-West. Die AfD könnte - wie auch 2017 - in östlichen Wahlkreisen vorne liegen. Aktuell sieht das Wahlmodell die Partei unter anderem in Meißen, Bautzen I, Görlitz und dem Erzgebirge vorne. Auch die Linke könnte Direktmandate gewinnen, zum Beispiel in Berlin-Lichtenberg.

Im Direktduell der Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen im Wahlkreis Potsdam sieht das Modell aktuell Olaf Scholz klar vor Annalena Baerbock. Beide sind zudem auf Platz 1 ihrer Landeslisten und damit sicher im Bundestag.

Armin Laschet hat überraschend auf eine Direktkandidatur in seinem Heimatwahlkreis Aachen I verzichtet. Er steht dafür auf Platz 1 der nordrhein-westfälischen Landesliste, was ihm ein faktisch sicheres Bundestagsmandat verspricht. In seinem ehemaligen Wahlkreis liegt momentan die SPD-Kandidatin Ye-One Rhie vorne.

In 21 von 299 Wahlkreisen ist das Rennen schwer vorherzusagen: Über 9000 simulierte Wahlen auf Basis des Wahlmodells hinweg erreicht kein Kandidat und keine Kandidatin dort in mehr als 50 Prozent der Fällen eine Mehrheit. Das betrifft gleich mehrere Wahlkreise in Brandenburg, wo sich CDU- und SPD-Kandidaten enge Rennen liefern dürften. In Berlin-Tempelhof-Schöneberg kämpfen unter anderem Renate Künast (Grüne) und Kevin Kühnert (SPD) um den Direkteinzug. Ihre Gewinnwahrscheinlichkeit liegt jeweils bei um die 40 Prozent. Beide sind jedoch auch über die Landesliste abgesichert.

Ein knappes Ergebnis könnte es auch in Südthüringen geben. Im Wahlkreis Wahlkreis Suhl-Schmalkalden-Meiningen-Hildburghausen-Sonneberg tritt der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen für die CDU an. Im Wahlmodell liegt er momentan vorne, dicht gefolgt vom AfD-Kandidaten Heinz Jürgen Treutler, auf Platz drei landet im Modell aktuell der ehemalige Biathlet Frank Ullrich (SPD).

Die Nichtregierungsorganisation Campact versucht zudem einen gemeinsamen Anti-Maaßen-Kandidaten durchzusetzen. Dagegen hat gerade ein lokaler AfD-Ortsverband dazu aufgerufen, den CDU-Kandidaten Maaßen zu wählen. Beides macht eine Vorhersage sehr schwer.

Lokale Parteien beeinflussen den Wahlausgang stark

Großer Gewinner in Bayern war in der Vergangenheit oft die CSU. 2017 holte sie alle bayerischen Erststimmenmandate. In diesem Jahr könnten zumindest kleine grüne Flecken in manchen Großstädten wie München entstehen. Sollte die CSU dazu noch ein eher niedriges Zweitstimmenergebnis einfahren, gäbe es viele Ausgleichsmandate für die anderen Parteien. Der Bundestag würde aufgebläht. Dies gilt als nahezu ausgemacht.

Eine weitere Lokalpartei könnte von diesen Ausgleichsmandaten profitieren: Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) tritt nur in Schleswig-Holstein an. Die Partei muss aber, weil sie eine Minderheit vertritt, nicht die Fünfprozenthürde überschreiten, um ein Bundestagsmandat zu bekommen. Wenn der SSW in etwa so gut abschneidet wie bei der letzten Landtagswahl, dürfte das klappen. Damals erreichte die Partei knapp 50 000 Zweitstimmen.

Im Bundestag könnten mit dem SSW am Ende sogar acht Parteien vertreten sein. Denn dass die Linken es nicht in den Bundestag schaffen, ist unwahrscheinlich. Dazu müssten sie nicht nur unter der Fünfprozenthürde bleiben, sondern zudem weniger als drei Direktmandate gewinnen. Ebenso unwahrscheinlich ist es allerdings, dass die Grünen die 20-Prozent-Marke knacken.

Am ehesten — etwa so wahrscheinlich, wie mit einem Würfel niedriger als eine Fünf zu werfen — dürfte die SPD am Wahlabend vorne liegen, gefolgt von der Union. Die Grünen würden demnach auf Platz drei landen. Wegen der vielen Briefwähler, die zum Teil deutlich anders abstimmen als Urnenwähler, dürften auch die ersten Prognosen um 18 Uhr noch teilweise deutlich neben dem Ergebnis liegen. Welche Partei die Wahl gewonnen hat und welche Koalitionen möglich sind, werden wir erst am späten Sonntagabend wissen.

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