Wahlnacht im TV:Mein lieber Harry

Absurdes Theater bei ARD und ZDF: Die Wähler störten einen ganzen Abend lang die Choreographie der Sender.

Hans-Jürgen Jakobs

Am Sonntagabend braucht jeder Polizeiruf oder - sagen wir - die Schwarzwaldklinik aus dramaturgischen Gründen einen Helden und einen Verlierer. So ist Fernsehen. Was aber macht man mit einer Wahl, die dummerweise bis Mitternacht sechs Stunden benötigt, bevor das ausgezählte Endergebnis verbreitbar ist?

PHC freut sich , Reuters

Ein jubelnder Seebär - am frühen Abend konnte sich Peter Harry Carstensen noch über seinen vermeintlichen Wahlsieg freuen.

(Foto: Foto: Reuters)

Ganz einfach: Alle reden durcheinander auf der Basis der jüngsten Hochrechnung - selbst, wenn ARD und ZDF ganz verschieden rechnen. Zur Choreographie des absurden TV-Theaters gehören bedeutungsschwangere Sätze ("Es bleibt spannend") sowie ein früher Triumphator. Der hieß in Schleswig-Holstein Peter Harry Carstensen.

Es wurde gezählt und gezählt, doch schon rief sich der CDU-Kandidat zum Landeschef aus, ein jubelnder Seebär, der die Arme vor der Kamera hochreckte wie der Fußballtrainer eines Amateurklubs, der soeben im DFB-Pokal einen Profiklub besiegt hat.

Nordseefrische und Charme

So also wurde PHC in den wenigen Stunden des reinen Glücks zum friesischen Markenzeichen. Ein Mann, der lieber an Stoltenberg erinnerte als an Barschel. ZDF-Innenpolitikchefin Bettina Schausten, die mit nordseefrischer Kühle und charmantem Willen den Wechsel ihres Senders in die Moderne symbolisiert, ließ andere nordseefrische Journalistinnen ausschwärmen.

Mein lieber Harry

Im Studio assistierte ihr der dichtende Newsmann Steffen Seibert ("Je älter, desto CDU"), dessen Glattpolitur immer stärker an Ulrich Meyer von Sat1 erinnert. PHC blieb der Held im Zweiten, auch wenn heute-journal-Moderatorin Marietta Slomka ihn mit "Harry Peter Carstensen" ansprach.

"Mengen an Schnittmengen"

PHC redete hernach, vielleicht auch verwirrt, über "riesige Mengen an Schnittmengen" mit der FDP. Ja, es wurde an diesem Abend über alle möglichen Koalitions-Konstellationen vor der Kamera geredet. Allein, es fehlte das Ergebnis.

Zwar wies Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen im ZDF auf Unsicherheiten hin. Doch wer wollte das hören? Das ZDF nicht. Leider waren die Zahlen des Herrn Jung diesmal eindeutig schlechter als die Zahlen des Instituts Infratest/Dimap in der ARD, die früh richtig lag mit ihrer Hochrechnung, dass SPD, Grüne und SSW eine Ein-Stimmen-Mehrheit im Parlament erreichten.

"Florida an der Förde"

So gab SPD-Titelverteidigerin Heide Simonis dem sichtlich strapazierten Tagesthemen-Veteran Ulrich Wickert noch jenes Interview, das sie laut ZDF an diesem Abend überhaupt nicht mehr geben wollte. Auch die Tagesthemen meldeten einmal einen Regierungswechsel.

Die vielen Aufregungen des Tages kommentierte WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn in der ARD mit variantenreichem Kräuseln der Oberlippe.

Mein lieber Harry

Schon früh hatte der Statistik-Junkie vor seiner Silber-Jalousie darauf hingewiesen, dass zunächst auf dem flachen Land gezählt würde (wo die CDU beliebt ist) und später die Städte mit ihrem SPD-Publikum drankämen.

Es gehe um 300 bis 500 Stimmen, sagte er vor Mitternacht, und sah schon unter Anspielung auf den ersten Wahlerfolg des George W. Bush ein "Florida an der Förde". Schönenborn war professionell. Er bot den Leuten auch den Hinweis darauf, dass es "ein Programm auf Ihrer Fernbedienung gibt, das eine schwarz-gelbe Regierung sieht".

Gute Nacht

Moin, moin: Irgendwie schien die ARD Heide-Land zu sein. Das Näherungsverfahren an die Wahl des Wählers unterbrach das Erste durch eine Ausgabe seines Politikrufs Sabine Christiansen, in dem es nie um ein Thema, sondern immer um alles geht.

Christian Wulff (CDU) und Wolfgang Gerhardt (FDP) brachten als Lümmel aus der anderen Reihe mit Zwischenbemerkungen die verdächtig hoch modulierende Grünen-Chefin Claudia Roth vollends aus dem Konzept, die Joschka-Fischer-Krise mit aussitzen zu wollen.

Sie verbat sich sogar den drohenden, frei beweglichen Zeigefinger des politischen Sterndeuters Hans-Ulrich Jörges. Wulff sprach noch von der nötigen Choreographie in einer Mediengesellschaft, die es nötig mache, die Kanzlerkandidatin nicht zu früh zu bestimmen, da die Journalisten bis zur Bundestagswahl im Herbst 2006 sonst zu wenig zu schreiben hätten. Immerhin bewies Peer Steinbrück (SPD) Humor und bescheinigte Gerhardt nach einer Suada: Das sei ja ein Wahlwerbespot gewesen!

Dann kam Mitternacht. Und erstmals hatte PHC auch im ZDF keine eigene Mehrheit mehr, woraufhin das Zweite zur Großen Koalition riet (mit PHC als Chef). Es war wie im Herbst 2002 bei der Bundestagswahl: Damals war man mit Edmund Stoiber eingeschlafen und mit Gerhard Schröder aufgewacht - diesmal nickte man mit PHC ein und wachte mit Heide auf. Gute Nacht!, wünschte das Fernsehen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: