Wahlnacht der Demokraten:Bleibt alles anders

Direkt nach der Wahl feiern die Demokraten in Chicago den gezeichneten Reformer. Sofort sendet Barack Obama ein klares Signal an sein Volk aus: Versöhnung. Der Wahlabend zeigt einen Präsidenten, der viel lernen musste.

Christian Wernicke

Rache ist ein garstiges Wort. Eines, das Präsidenten selten aussprechen. Barack Obama, geschunden von vier Amtsjahren, zermürbt von 14 Monaten Kampagne, ist die Bemerkung unachtsam rausgerutscht. Erschöpfung macht ehrlich.

Dabei scheint alles Routine zu sein in diesem Augenblick. Der Präsident müht sich wieder einmal, ein paar tausend Anhänger zu begeistern. Dunkle Windjacke, offener Hemdkragen, Furchen im Gesicht, ergraute Haare, müde Augen: So steht er in einer Sporthalle in Springfield in Ohio, jenem Bundesstaat also, der ihm vier Tage später den Sieg schenken soll. Obama belehrt seine Anhänger mehr, als dass er sie begeistert, berichtet von Erfolgen der vergangenen vier Jahre und davon, wie schwer es gewesen sei, all dies durchzufechten im Moloch von Washington.

Dann folgt, was längst zum Ritual geworden ist bei Obamas Auftritten. Kaum erwähnt er seinen Herausforderer, beantwortet das Publikum den Namen Mitt Romney mit lauten Buhrufen. Obama hebt den Zeigefinger, beugt sich nah ans Mikrofon und sagt, was er immer sagt an dieser Stelle: "Nein, nein, buht nicht - wählt!" Nur, diesmal blafft er mit heiserer Stimme noch einen Satz hinterher: "Wählen ist die beste Rache!"

Bricht nun also die Zeit der Vergeltung an? Wird Barack Obama, vom Volk für vier weitere Jahre als 44. Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten gekürt, seinen Wahlsieg als Freibrief deuten, Rache zu nehmen an den fundamental-oppositionellen Republikanern und an all jenen Widersachern, die sich ihm entgegenstellen, ihn hasserfüllt als Nazi oder Sozialisten schmähen, ihn als "unamerikanisch" denunzierten?

Er darf es nicht. Und selbst wenn er könnte: Er will es auch nicht.

Alles ist wie früher: der federnde Gang, das strahlende Lächeln

Obama ist ein Kopfmensch. Einer, der sich so sehr von seinem Intellekt, seiner Vernunft, seinem in der Nähe des Gefrierpunktes temperierten Machtkalkül leiten lässt, dass seine Coolness selbst glühendste Anhänger oft zur Verzweiflung treibt. Daran wird sich in der zweiten Amtszeit wenig ändern. Denn Obamas Triumph, von den Demokraten in einer spröden Kongresshalle in Chicago gefeiert, hat bei nüchterner Betrachtung nur Washingtons elende Verhältnisse zementiert, wie sie schon vor dem 6. November 2012 herrschten. Zwar hat Obama Romney überwunden, einen Gegner, den er verachtete und den er neulich sogar als "Dummschwätzer" ("Bullshitter") abstrafte. Aber die Republikaner bleiben nun, wie und wo sie waren: in voller Macht und Montur im Repräsentantenhaus, im Senat obendrein gewappnet mit einer Sperrminorität, die alle Gesetze und jeden Dollar Staatsausgaben Obamas blockieren könnte.

Ja, auch deshalb hat der Präsident in der Nacht prompt zur Aussöhnung gemahnt. Obama wirkt nicht nur erleichtert im Moment des Sieges, er scheint unbeschwert zu sein. Als er eine Stunde nach Mitternacht auf die Bühne tritt, zeigt er wieder, was so selten geworden war: seinen federnden Gang, sein breites, strahlendes Lächeln. Er hält Sasha an der Hand, seine jüngere Tochter, er muntert Malia auf, die ältere, die vor den Augen der Nation zur jungen Frau heranreift. Und er umarmt, in Innigkeit, Michelle, die natürlich phantastisch aussieht in ihrem kastanienbraunen Kleid von Michael Kors. "Ich habe dich niemals mehr geliebt", ruft er ins Mikrofon, und wen würde das kaltlassen?

Endlich kommt er bei sich selber an

Obamas steht auf einer blau leuchtenden Bühne. Ganz oben, und doch mittendrin: Und weil sein Podium wie eine Zunge in die Menge ragt, wirkt die Szene, als werde er von der Menge getragen. Sie würde es auch tun.

Dann wird er ernst, streng sogar. Es spricht das Staatsoberhaupt, der dem geschlagenen Mitt Romney seine Reverenz erweist. Er ist der Mann fürs Ganze, der an "das gemeinsame Band" erinnert, das im Wahlkampf zerschlissen zu sein schien und doch alle Amerikaner verbindet. Kein Hauch von Rache, stattdessen Demut: "Ob ich Ihre Stimme erhalten habe oder nicht - ich habe Sie gehört, ich habe von Ihnen gelernt", versichert er und öffnet beide Hände, "Sie haben mich zu einem besseren Präsidenten gemacht. Ich kehre in das Weiße Haus zurück, entschlossener und beseelter denn je zuvor."

Obama kommt, binnen knapp zwanzig Minuten, letztlich bei sich selbst an: Er ist wieder jener Vereiner und Versöhner, als der er vor acht Jahren - mit einer fulminanten Parteitagsrede 2004 - seine nationale Karriere begann. Mancher Satz klingt wie ein Bruchstück aus dem amerikanischen Traum, den er damals ausmalte, und der dann, während der vergangenen vier Jahre, zertrümmert erschien. Diese Nation, so beschwört Barack Obama mit bebender Stimme, sei "größer als die Summe dessen, wonach wir als Einzelne streben. Wir bleiben mehr als eine Ansammlung von roten und blauen Staaten. Wir sind und werden auf ewig die Vereinigten Staaten von Amerika sein!"

Obama ist bescheidener geworden. Noch immer spricht er von hope, von "der Hoffnung, diesem störrischen Ding in unserem Innern, das trotz aller Beweise fürs Gegenteil darauf besteht, dass uns etwas Besseres erwartet, solange wir den Mut haben, danach zu streben, dafür hart zu arbeiten, zu kämpfen!"

Aber er verspricht nicht mehr, wie zur gleichen politischen Stunde vor vier Jahren, das Blaue vom Nachthimmel. Im November 2008, am Abend seines ersten Sieges, standen eine Viertelmillion Landsleute in Chicagos Grant Park. Wildfremde Menschen umarmten sich, strahlten beseelt, waren voll des Glaubens, da ihr Idol anmaßend verkündete, mit seiner Wahl sei "der Wandel nach Amerika gekommen". Selbst eingefleischte Republikaner erzählen, sie hätten in jenen Minuten Tränen vergossen - aus Stolz ob der Wahl ihres ersten nicht bleichen Präsidenten.

So viel Geschichte aber geschieht nur einmal. Zweimal erster Schwarzer im Weißen Haus werden, das kann niemand.

Der Zauber, der allem Anfang innewohnt, wird Obama diesmal fehlen. Der Präsident hat das begriffen. Sein Kampagnen-Slogan "Forward" (Vorwärts), im Oktober nachgerüstet um ein Ausrufezeichen, klang platt, ja dumpf. Sein Wahlkampf wirkte lange merkwürdig schal. Perfekt organisiert zwar und solide durchfinanziert mit einer Milliarde Dollar. Doch kalt und negativ: Drei Viertel seiner bis zum Spätsommer ausgestrahlten TV-Spots versuchten, den Republikaner Mitt Romney als kapitalistischen Unhold und Heuschrecke zu zeichnen. "Charakter-Hinrichtung" nennen PR-Berater diese Methode (die die Republikaner auch 2012 freilich ebenso meisterhaft beherrschten).

Der neue Obama ist auf der Hut

Den Preis für die destruktive Strategie wird der Präsident nun nach der Wahl berappen müssen. Weil er sich, jenseits von "Vorwärts", nie traute, seinem Wahlvolk ein ambitiöses Konzept oder gar eine Vision für eine zweite Amtszeit zu präsentieren, kann er den knappen Sieg vom Dienstag nachträglich nicht zum Vertrauensbeweis für ein klares Konzept umdeuten. Obama hat, programmatisch jedenfalls, kein starkes Mandat. Im Gegenteil, laut einer NBC-Umfrage von Ende Oktober verlangen 62 Prozent aller Wähler, der Präsident solle "wesentliche Änderungen" an seinem Kurs vornehmen. Nur vier Prozent wünschen, Obama II möge so weiterregieren wie Obama I.

Anders gesagt: Auch die meisten Demokraten sehnen sich nach einem anderen, einem irgendwie besseren Obama. Die Ernüchterung über das einstige Idol sitzt tief, trotz der Erfolge, die der Präsident bei jeder seiner 101 Großveranstaltungen mit heiserer Stimme referierte: fünfeinhalb Millionen neue Jobs seit 2009, die Gesundheitsreform, die Rettung der Auto-Industrie, das Ende des Irak-Kriegs, der Tod von Amerikas Staatsfeind Osama bin Laden. Das sind Leistungen historischen Ausmaßes, aber es ist doch zu wenig gewesen, um das Obama-Fieber von 2008 neu zu entfachen. Sie sind wählen gegangen, um Obamas Erbe gegen die Republikaner zu verteidigen. Die Abneigung gegen Romney hat 2012 Millionen an die Urnen getrieben, die alte Liebe zu ihrem "Barry" aber rostet.

Schuld an dieser Entfremdung, so glaubt Kolumnist Michael Tomasky, sei die Lust der Linken an der eigenen Verzweiflung. "Liberal Despair", so schrieb der linke Vordenker unter dem Eindruck der wütenden Anti-Obama-Proteste der rechten Tea-Party, sei "Reflex und erster Instinkt und sogar schlicht Mode" im linken Milieu. Nur, Verzagtheit und chronische Nörgelei an jedwedem Kompromiss des Präsidenten stärke letztlich nur die Macht der Rechten: "Das hilft nur sicherzustellen, dass alle Fortschritte unter Obama schnell zurückgenommen werden."

Wütend geißelt Tomasky die ständigen Vergleiche mit den zwei Helden progressiver Reformschübe, den Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson. FDR habe seinen New Deal in einer Ära durchgesetzt, da die Große Depression die Nation in bitterste Armut gestoßen hatte und jeder vierte Amerikaner arbeitslos war. Und LBJ's Great Society - seine Sozialagenda sowie die Gesetze zur Gleichstellung der Schwarzen - sei von einer breiten, liberalen Mehrheit im Land getragen, zu der sich auch Republikaner gesellten. Die schiere Verzweiflung der 30er-Jahre, der linke Mainstream der 60er-Jahre - beides fehlt Obama, dem vermeintlich dritten liberalen Erlöser. Ihm bleiben nur: Kompromisse. Durchwurschteln.

Im Amerika des 21. Jahrhunderts grassiert das Misstrauen: gegenüber Staat und Regierung, contra Präsident und Kongress. Nur noch ein Viertel aller US-Wähler, so warnt der Sozialwissenschaftler und demokratische Stratege Stanley Greenberg, äußere sich zuversichtlich zur Leistungsfähigkeit des mehr als 220 Jahre alten Regierungssystems: "Eine solche Legitimitätskrise der Regierung ist eine Krise des Liberalismus", der Linken also. Obama bedient diese Stimmung, zumindest rhetorisch: Seine Klage über das real existierende Washington klingt bisweilen, als habe ein anderer die vergangenen vier Jahre in dem großen, weißen Haus an der Pennsylvania Avenue residiert.

Obama ist auf der Hut. Versprechungen wie 2008, seine Wahl könne "den Anstieg der Ozeane" bremsen oder "den Planeten heilen", hat er 2012 nicht mehr riskiert. Und seine PR-Berater versuchen, Vergleiche mit FDR, LBJ oder den Kennedy-Brüdern im Keim zu ersticken.

Vor einem Monat noch drohte dieser Präsident zu scheitern

Und doch holen sie ihn immer wieder ein. Denn Obama, der Menschenfänger von 2008, hat sich lange, zu lange aller Welt entzogen. Kürzlich hat zum Beispiel Richard Cohen zugeschlagen, ein bekennender Demokrat. Der Kolumnist der Washington Post wagte den Vergleich mit Robert F. Kennedy, dem 1968 ermordeten Präsidentschaftskandidaten, der angesichts von Armut und Unrecht stets Anteilnahme und Empörung gezeigt habe: "Nie habe ich einen solchen Ausdruck im Gesicht von Barack Obama gesehen." Dieser Präsident habe - "außer seinem politischen Überleben" - kein wirkliches Anliegen: "Er ist der Präsident, der sich nicht schert."

Auch im Wahlkampf wirkte er monatelang entrückt, fast unnahbar. Die Klage, der Präsident habe sich eingemauert im Weißen Haus, kursierte in Washington schon lange. "Es ist erstaunlich, dass er in die Politik gegangen ist, denn er mag wirklich keine Menschen", sinnierte neulich Neera Tanden, als Präsidentin des Center for American Progress immerhin die Chefin eines urdemokratischen Thinktanks. Ihre Analogie für Obamas Charakter fiel vernichtend aus: "Er wird zu einem Bill Gates, der keine Computer mag."

Der Präsident hat reagiert

Nur, am 3. Oktober entdeckten knapp 70 Millionen Amerikaner genau diesen Obama. Es war dieser auf sich selbst bezogene Solitär, der bei der ersten Fernsehdebatte vor die Kameras trat: ein Mann, der seinen Widersacher Mitt Romney kaum eines Blickes würdigte, der herablassend dozierte und dessen steinerne Miene jedem Zuschauer bedeutete, wie unnütz und seiner unwürdig er das mediale Schauspiel empfindet. Die Arroganz, die sein Volk da auf der Mattscheibe entdeckte, hätte ihn fast die Wiederwahl gekostet.

Der Präsident hat reagiert.

In den letzten vier Wochen des Wahlkampfes ist der Kandidat wieder zu jenem Obama geworden, nach dem sich die Demokraten lange so sehr sehnten. Geholfen hat ihm dabei Sandy, der Wirbelsturm, der eine Woche vor der Wahl die Ostküste verwüstete: Das Foto, auf dem der Präsident ein Flutopfer schützend an sein Herz drückt, zeigte endlich den Mann, den so viele vermisst hatten.

Auffallend ruhig im Saal

Und es symbolisierte zugleich, dass der Staat in der Not eben doch vonnöten ist. Von dort hat Obama weitergekämpft, hat den maliziösen Trend in den Umfragen und die eigene Menschenscheu überwunden. Er überwand die Gräben, die zuletzt so oft zwischen ihm und der Menge klafften - und er rang den Bodyguards vom Secret Service ab, mehr Nähe zuzulassen. In Springfield, nach dem Racheschwur von Ohio, schüttelte er nicht nur Hände hinterm Absperrgitter. Er strich der weißen Oma über die Wange, er umarmte die schwarze Mutter zweier Kinder. Sogar ein Baby hat er geküsst.

Nun also der nächste Akt. Four more years! Obama II.

Der Präsident musste viel lernen. Und nun wird er sich noch einmal neu erfinden müssen. Seine bisherigen Rollen genügen nicht für das, was auf ihn zukommt. 2008 war er der Mobilisierer, der versprach, gleichsam per Volksbewegung zu regieren. Es folgte der Moderator, der glaubte, vom Weißen Haus aus den Parteienzank schlichten zu können. Auch das ging schief.

Nun hat sich der Amtsverteidiger Barack Obama als "besserer Präsident" vorgestellt. Eben "entschlossener und beseelter denn je". Will sagen: als eine Art neuer Präsident. Es war einer der ruhigsten Momente dieser Nacht, seine Anhänger ließen ihre Papierfähnchen sinken und hielten inne, als Obama am Podium sein Arbeitsprogramm entwarf: Zusammenarbeit beider Parteien, weniger Schulden, mehr Immigration. Obama ist fortan als Mechaniker der Macht gefragt, als Meister oft genug öder Kompromisse. "Wir haben noch viel Arbeit zu erledigen", sagt er. Der Präsident versteht es, selbst einem solch banalen Satz einen hellen Klang und einen großen Hall zu verleihen. Er weiß aber sehr wohl: Der Alltag, der auf ihn wartet, er wird grau werden.

Der Artikel ist ein Auszug aus dem SZ-E-Book "Barack Obama - Aufstieg, Krise, zweite Chance". Es schildert in 20 Stationen Barack Obamas erste Amtszeit und analysiert die Probleme, die er nun bewältigen muss. Ab Samstag erhältlich unter www.sz-shop.de.

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