Wahlkreis-Atlas:So rot, so schwarz

Windräder im Abendlicht

Hinter vielen Windrädern geht in Niedersachsen die Sonne unter.

(Foto: dpa)

Nur wenige Kilometer trennen die niedersächsischen Wahlkreise 32 und 24. Doch in Cloppenburg-Vechta liegt seit 1949 die CDU haushoch vorne, in Aurich-Emden gewinnt immer die SPD. Ein Besuch im "Güllegürtel" und in der Arbeiterhochburg zeigt, dass längst nicht alle Deutschen zu Wechselwählern geworden sind.

Eine Reportage von Oliver Das Gupta

Die erste Meinung zum Wahlkreis 32 stammt vom Straßenrand. "Warum wollen Sie denn ausgerechnet nach Friesoythe?", fragt die Anhalterin ein paar Kilometer hinter Oldenburg. Sie schüttelt ihre blonden Haare und steigt ein. "In Friesoythe leben nur seltsame Leute. Ich muss auf jeden Fall vorher raus", sagt sie. Dann holpert der Wagen über die schlecht geteerte Landstraße gen Westen, wohin das Dunkel das letzte Abendlicht drückt.

In Friesoythe sei die Doppelmoral "ganz schlimm", behauptet die Mitfahrerin. Deren Bewohner würden in Oldenburg in die Bordelle gehen. "Zu Hause fromm tun, aber anderswo sündigen." Woher sie das so genau wisse? Kann sie nicht sagen. Vielleicht will sie es auch nicht. Sie sei evangelisch und "die da" jenseits des Küstenkanals erzkatholisch, sagt die Frau, bevor sie vor der Brücke aussteigt.

Auf der anderen Seite beginnt das Zentrum des Oldenburger Münsterlandes, die Landkreise Cloppenburg und Vechta - eine Region mit Besonderheiten. Nirgendwo in der älter werdenden Republik kommen so viele Kinder zur Welt. Politisch verläuft hier vieles ebenfalls anders. In einer Zeit, in der traditionelle Milieus vom Breisgau bis ins Ruhrgebiet erodieren und die Zahl der Wechselwähler steigt, ändert sich hier so gut wie nichts: Seit Gründung der Bundesrepublik gewinnt die CDU den jetzigen Bundestagswahlkreis 32 haushoch.

Kurios mutet der Umstand an, dass nicht einmal 45 Auto-Minuten in Richtung Norden entfernt die politischen Verhältnisse ebenso felsenfest sind, nur seitenverkehrt: Aurich-Emden, der Wahlkreis 24, ist seit 1949 rot. Die Ostfriesen schicken stets den SPD-Kandidaten direkt in den Bundestag - und machen die Sozialdemokraten zur stärksten Partei. Am 22. September dürfte in beiden Wahlkreisen die Tradition fortgesetzt werden. Warum tickt der Nordwesten Niedersachsens so verschieden?

So rot, so schwarz: In den meisten kommunalen Volksvertretungen im Ostfriesland und im Oldenburger Münsterland sind die Mehrheitsverhältnisse - abgesehen von Ausnahmen - ähnlich betoniert. Bei der letzten Stadtratswahl in Friesoythe bekam die CDU mehr als 68 Prozent der Stimmen. Friesoythe ist typisch für die tiefgreifenden Veränderungen in der Region. Die Stadt wuchs auf 20.000 Einwohner, auch weil viele Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion hierherzogen. Alte Häuser stehen kaum in Friesoythe, kanadische Truppen zerstörten die meisten im Zweiten Weltkrieg.

Beiname "Güllegürtel"

Eine Metzgerei gibt es längst nicht mehr, auch kein deutsches Gasthaus. Die Erinnerung an die einheimische Küche pflegt ein italienisches Lokal mit der "Friesoyther Pfanne", die "drei verschiedene Sorten Fleischwurst" enthält. Die Massentierhaltung bescherte den strukturschwachen Kreisen Cloppenburg und Vechta eine Menge neuer Jobs - und den Friesoyhtern täglichen Gestank, der Ortsfremden den Magen umdreht. Nirgends in Deutschland werden so viele Schweine gemästet, inzwischen trägt die Region den Beinamen "Güllegürtel".

CDU Merkel Wahlkreis Cloppenburg Vechta Friesoythe

CDU-Plakat mit Kanzlerin Angela Merkel vor der Kirche in Friesoythe.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Doch all diese Umwälzungen änderten nichts an den politischen Machtverhältnissen, die tief in der Vergangenheit wurzeln. 400 Jahre herrschten die Bischöfe von Münster über den Landstrich. Als der Klerus im Jahre 1803 die weltliche Macht über das Oldenburger Münsterland verlor, hatte der Katholizismus längst die ansässige Gesellschaft durchwirkt.

Noch heute ist der Einfluss der Kirche unübersehbar. Die Caritas ist der wichtigste Arbeitgeber. Im größten Café hängt ein Kreuz an der Wand, daneben verkündet eine gerahmte Urkunde, dass das Lokal unter den "Segen Gottes gestellt" wurde.

Vor der Kirche hängen Plakate von Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Familienpartei. Andere Parteien sind optisch nicht im Ortskern präsent. Völlig überzeugt von der CDU sind die Menschen in Friesoythe an diesem Montagmorgen nicht. Eine Mutter etwa erzählt, wie sehr es sie nervt, dass bei nahezu allen sozialen Einrichtungen wie Kitas die Kirche die Fäden zieht.

Nur Guttenberg war besser

Viele Alteingesessene hier seien eine "ganz besondere Spezies", sagt ein jüngerer Mann. Er sei unzufrieden mit der Union, werde sie am 22. September aber wohl trotzdem wählen. Wieso erhält die CDU trotz des Unmuts und des Bundestrends immer wieder satte Mehrheiten? "Das ist so eine Art Bodenständigkeit", sagt er. "Wir sind hier nicht so, dass wir schnell die Pferde wechseln." Seinen Namen nennen will er nicht und auch die anderen bitten um Anonymität.

Kirche Segen Cafe Glub Friesoythe

Segens-Urkunde der Kirche im Cafe Glub. Nicht im Bild: Die besten Wünsche des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Graf, der der Eigentümerfamilie gute Geschäfte und zufriedene Gäste wünscht.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Einer, der keine Angst hat, offen zu sprechen ist der frühere Bundestagsabgeordnete Günter Graf. An seiner Aufbauarbeit liegt es, dass die SPD - mal abgesehen von einem einsamen grünen Ratsherren - heute als einzige Partei neben der CDU im Stadtrat von Friesoythe vertreten ist. Der langjährige Polizeihauptkommissar kam 1963 in die Stadt und fand damals nur fünf Genossen vor. Sie mussten einiges ertragen: Plakate verschwanden über Nacht, Freundschaften zerbrachen und wenn ein SPD-Mann zum Gottesdienst erschien, musste er damit rechnen, gefragt zu werden, was er an diesem Ort wolle. Graf macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl: "Das war damals schon sehr deprimierend."

Zwei Stunden später in der CDU-Zentrale in Cloppenburg. Kreisgeschäftsführer Bernhard Hackstedt hört sich an, worüber SPD-Mann Graf klagt. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht. Man gehe fair miteinander um, sagt er knapp, "fair und respektvoll". Hackstedt spricht lieber über das "sinnvolle" Betreuungsgeld, das die CSU durchgesetzt habe, oder über die vielen Mandatsträger, die die CDU im Raum Südoldenburg stellt.

Die SPD Niedersachsen hat das Oldenburger Münsterland aufgegeben

Gibt es einen Zusammenhang, dass die Menschen in Cloppenburg ständig schwarz wählen und die im nahen Emden andauernd rot? Hackestedt schaut kurz an die Wand, wo ein Bild von Konrad Adenauer hängt. Das habe wohl auch mit der Religion zu tun, sagt er. "Osi-Land" sei evangelisch-reformiert, hier dominiere der Katholizismus. Ähnlich argumentiert CDU-Spitzenkandidat Franz-Josef Holzenkamp. Er erreichte 2009 das beste Erststimmenergebnis in der CDU: 62,3 Prozent. Nur der damalige CSU-Star Karl-Theodor zu Guttenberg schnitt noch besser ab.

Die Konkurrenz muss Holzenkamp auch bei dieser Wahl nicht fürchten. Das hat auch mit den Gegenkandidaten zu tun, wie sich bei einer Diskussionsveranstaltung der Industrie- und Handelskammer in Emstek zeigt.

Einzig Gabriele Groneberg von der SPD hält wacker dagegen. Sie sitzt auch im Bundestag, noch. Die SPD Niedersachsen hat das Oldenburger Münsterland dauerhaft aufgegeben und Groneberg nicht über die Landesliste abgesichert. 2009 erreichte sie nur 19 Prozent der Erststimmen - aber immerhin 2,5 Prozentpunkte mehr als ihre Partei an Zweitstimmen. Groneberg kam in den Achtzigerjahren aus dem Ruhrgebiet hierher und dachte, mit Geduld und guten Argumenten den Wahlkreis drehen zu können. Nun weiß sie, dass sie wieder verlieren wird. In Cloppenburg-Vechta sei alles so festgefügt, klagt sie.

Ostfriesland nahe Emden

Weide nahe der ostfriesischen Stadt Emden. Im Hintergrund sind Windräder zu sehen.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Emden - ein stabiles Bollwerk der Sozialdemokratie

"Hier ist die Welt noch in Ordnung", sagt ein Vertreter des regionalen Energieversorgers EWE, Gastgeber der IHK-Veranstaltung, dem Besucher aus Süddeutschland und grinst. Seine Mimik verrät, dass er sofort bereut, was ihm da rausgerutscht ist.

Der Konzern operiert auch im sozialdemokratischen Ostfriesland. Dort gibt es eine Menge Ärger: Der Offshore-Windpark Riffgat in der Nordsee läuft nur dank Dieselmotoren - weil 15 Kilometer Kabel fehlen.

Es ist ein weiterer Rückschlag für den Ruf der Windenergie und für Ostfriesland. Man setzte hier alle Hoffnungen auf die Energiewende. Die örtliche SIAG AG baute nicht mehr U-Boote und Handelsschiffe, sondern Fundamente für Windrotoren. Im Herbst 2012 meldete die SIAG Insolvenz an, die damalige CDU-Landesregierung half erst nicht und dann zu spät - erst kurz vor den Landtagswahlen. Es ist ein Desaster für Ostfriesland, wo der Strukturwandel heftige Folgen hinterlassen hat. Abgesehen von einigen kleinen Werften ist der Schiffbau tot. Die meisten Arbeitsplätze bietet das VW-Werk, sonst ging es seit der Wiedervereinigung in der Region Emden bergab.

Früher blühte die Stadt durch ihren Hochseehafen und den regen Handel. Aus den Niederlanden gelangten nach dem Dreißigjährigen Krieg liberale Ideen und die reformierte Kirche in die Region. Mit der Industrialisierung kamen Arbeiter aus dem Ruhrgebiet die Ems herauf, sie brachten die sozialdemokratischen Ideen mit und vermischten sie mit der friesischen Mentalität und dem sittenstrengen Protestantismus.

Diese Melange bildet eine Grundlage dafür, dass der Wahlkreis Aurich-Emden nach wie vor ein stabiles Bollwerk der deutschen Sozialdemokratie ist. Hier ist die Verbindung zwischen SPD, Arbeiterwohlfahrt und Gewerkschaften noch lebendig, die im Rest der Republik seit den Agenda-Reformen von SPD-Kanzler Gerhard Schröder gestört ist. In Ostfriesland änderte sich wenig an den gewachsenen Strukturen sozialdemokratischer Vernetzung.

"Das kleine Übel wählen": Ehemaliger Werft-Arbeiter Norbert Jetses auf dem Emder Markt.

"Das kleine Übel wählen": Ehemaliger Werft-Arbeiter Norbert Jetses auf dem Emder Markt.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Es ist eine besondere Ausprägung von Konservativismus, der politisch links ist und zusammengeht mit Lokalpatriotismus. Hier gilt der Handschlag noch etwas, hier ist man stolz auf die Heimat, die Vereine und den Emder Komiker Otto Waalkes.

Heimatverbunden, geschichtsbewusst, bodenständig: Es sind Attribute, die auch Friesoyther und Cloppenburger sich selbst beimessen. So verschieden die Menschen in beiden Wahlkreisen politisch ticken, so sehr ähneln sie sich auch. Es ist derselbe Menschenschlag, dieselbe Mentalität. Und in beiden Fällen fühlt man sich mit der Zeile des Niedersachsen-Liedes passend beschrieben, in der es heißt "sturmfest und erdverwachsen" zu sein.

"Bodenständig sind wir", das sagt auch Norbert Jetses und meint nur die Friesen. Der gebürtige Emder steht auf dem Markt vor dem mobilen Fischladen seiner Frau. Früher hat der 55-Jährige auf der Meyer-Werft gearbeitet, die gibt es noch, allerdings in Papenburg. Wählen? Er überlege sich noch, ob er diesmal wieder mitmacht. "Man kann nur das kleinere Übel wählen", sagt Jetses und rollt sich eine Zigarette.

Eigentlich will er nicht über Politik reden, doch als er zu Ende geraucht hat, bricht es aus ihm heraus. Die Grünen seien schuld am Niedergang der Sozialdemokratie, "die, mit ihren neuen Ideen", schimpft Jetses. "Jetzt wollen die uns zu Vegetariern machen." Er kennt nur einen Direktkandidaten für die Bundestagswahl und das ist der Neue, Johann Saathoff von der SPD. "Der macht einen frischen Eindruck."

Der andere spricht Plattdeutsch, der andere kann es nicht

Getroffen hat Jetses den Kandidaten nicht, denn Saathoff ist Bürgermeister der Krummhörn. Seit zehn Jahren steht er den 19 Ortschaften des Landstrichs vorm Deich vor, wo die Luft nach Salz schmeckt und die Dörfer zumeist aus roten Klinkerbauten zusammengesetzt sind.

Auf Facebook ist der 45 Jahre alte Saarhoff sehr aktiv. Aber auf seiner Internetseite finden sich nur wenige Wahlkampf-Termine. Die skurrile Begründung: "Sonst wüsste ja auch der politische Gegner Bescheid."

Schließlich klappt es mit einem Treffen bei einer seiner öffentlichen Sprechstunden. Sie heißen: "Tass Tee mit Börgmester". Bei Friesentee geht es im 400-Seelen-Dorf Manslagt um einen giftigen Riesen-Bärenklau, eine Feuerwehrzufahrt über Privatgrund und das gewaltige niederländische Kohlekraftwerk, dessen Umrisse sich am Horizont abzeichnen.

Wahlkreis-Atlas: Themenbreite von Kohlekraftwerk bis Riesen-Bärenklau: Bürgermeister Saathoff bei seiner Bürgersprechstunde in Manslagt.

Themenbreite von Kohlekraftwerk bis Riesen-Bärenklau: Bürgermeister Saathoff bei seiner Bürgersprechstunde in Manslagt.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Saathoff spricht ausschließlich Plattdeutsch, streut Witzchen ein, bleibt im Lokalen. So betreibt der Sohn einer Netzstrickerin und eines Hafenarbeiters einen Graswurzel-Wahlkampf, den sein CDU-Herausforderer Heiko Schmelzle besonders blass aussehen lässt. Er ist zwar in Ostfriesland geboren und aufgewachsen, aber Ähnliches hat er nicht vorzuweisen. Seine Vorfahren stammen aus dem Schwäbischen und dem Spreewald. Schmelzle tritt zum ersten Mal an, sein CDU-Vorgänger erhielt 2009 nur knapp 25 Prozent der Erstimmen. Das will er deutlich toppen. Er setzt darauf, die Frauen für sich zu gewinnen. Bei den Männern hat er wenig Hoffnung: "Einen Ostfriesen kann man nur schwer umpolen."

Dabei hat der Bundestrend 2009 in Aurich-Emden deutlich durchgeschlagen. Linke, FDP und Grüne kamen auf mehr als zehn Prozent, die SPD fuhr mit weniger als 39 Prozent ein für ostfriesische Verhältnisse maues Zweitstimmenergebnis ein.

Dass die Sozialdemokraten im September zumindest einige Enttäuschte wieder zurückholen, ist gut möglich. Zumindest im Publikum der Emder Kneipe "Klapsmühle" ist die Partei wieder besser gelitten. Hier trinken sich die "Hartzer", die Geringverdiener, die Abgehängten, die einst zur klassischen SPD-Klientel gehörten, den Tag schön. Zwei Getränke kosten 3,20 Euro, ab und zu gibt es eine Runde Korn aufs Haus. Anfang des Monats, wenn Löhne und Sozialhilfe ausgezahlt werden, soll die alkoholgeschwängerte Stimmung dem Lokal-Namen alle Ehre machen.

Reiner ist Stammgast und fuhr viele Jahre zur See mit der DDR-Handelsmarine, nach der Wende kam er nach Emden. Am Niedergang der Werften hat die Wirtschaft schuld, sagt er, "Manager haben das verbaselt." Und die alte CDU-Landesregierung hat die Offshore-Zukunft auch "verbaselt", als sie die SIAG finanziell darben ließen. Das wäre den Sozialdemokraten nicht passiert, glaubt er und Nebenmann Theo lächelt zustimmend. Reiner will wieder SPD wählen, sagt er laut, "die haben ihre Lektion gelernt". Er ist ein richtiger Ostfriese geworden.

Kneipe Klapsmühle in Emden Ostfriesland

Anfang des Monats, wenn Löhne und Sozialhilfe ausgezahlt werden, soll die alkoholgeschwängerte Stimmung dem Lokal-Namen alle Ehre machen: die Kneipe "Klapsmühle" in Emden.

(Foto: Oliver Das Gupta)
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