Süddeutsche Zeitung

Wahlkreis-Atlas:Chancenlos im Geburtsland der SPD

Das Erzgebirge ist das Armenhaus Sachsens - die SPD sollte hier leichtes Spiel haben. Doch nirgends steht die Partei schlechter da als in der einstigen Bergbauregion. Hier nehmen ihr vermeintliche Heilsbringer von der CDU und Kümmerer von den Linken die Stimmen weg. Statt sich aufzurappeln, schwelgen die Genossen in der Vergangenheit.

Eine Reportage von Antonie Rietzschel, Erzgebirge

Es sieht aus wie das Ergebnis einer Bastelstunde von Grundschülern: Die Farben Schwarz-Rot-Gold sind ungleichmäßig aufgemalt. Einige der weißen Buchstaben sind schon abgefallen, aber der Wahlspruch ist trotzdem zu erkennen: "Alles spricht für Demokratie. Alles spricht für Sozialdemokratie." Was Hartmut Tanneberger gerade vom Dachboden geholt hat, ist ein historisches Dokument. Er präsentiert eines der ersten Wahlplakate der SPD im Osten nach fast 60 Jahren Nichtexistenz.

Damit machten Tanneberger und seine Mitstreiter 1990 vor der letzten Volkskammerwahl der DDR in ihrer Stadt Werbung für die SPD. Ihre Hoffnung war damals groß, aber noch größer war sie zuvor, als die Wende kam. "Wir haben gedacht, wir könnten an die Tradition von vor 1933 anknüpfen." Tanneberger lächelt selbst über diese Naivität.

Der 66-Jährige wohnt in Olbernhau, im Erzgebirge. Dort steht es so schlecht um die SPD wie nirgends sonst in Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2009 erhielt die Partei in einigen Gemeinden nur sieben Prozent. An den miesen Ergebnissen wird sich auch in diesem Jahr kaum etwas ändern. Denn keine andere Partei ist in der einstigen Bergbauregion so wenig präsent wie die SPD - auch weil eine Leitfigur fehlt.

Der Richtige wäre Hartmut Tanneberger. Doch der will nicht. "Ich bleibe hier in meinem schönen Olbernhau", antwortet er auf die Frage, warum er nicht als Spitzenkandidat für den Bundestag kandidiert. Tanneberger ist, wenn man diese Floskel bemühen will, das Urgestein der Sozialdemokratie im Erzgebirge. Das Büro des Ortsverbandes befindet sich in seinem eigenen Haus unterm Dach. Einst war dies sein Kinderzimmer. Als Willy Brandt 1961 das erste Mal als Bundeskanzler kandidierte, hörte er hier als 13-Jähriger heimlich im Westradio mit, wie die Stimmen ausgezählt wurden. Wahlkreis für Wahlkreis.

Heute hängt über dem Schreibtisch ein Foto des Altkanzlers Brandt mit Widmung für den Ortsverband. Tanneberger ist stolz auf dieses Autogramm und darauf, zu DDR-Zeiten ein politischer Querkopf gewesen zu sein. SED-Mitglied? Niemals. 1989 trat er der SDP bei, der DDR-SPD. Nach der Wende waren seine Nachbarn verwundert, weil er als Christ nicht Mitglied der CDU wurde. Für ihn war das nie eine Option. "Die haben mit dem SED-Regime Hand in Hand gearbeitet", sagt er heute.

Tanneberger hat in Olbernhau den SPD-Ortsverband gegründet, korrekter wäre es von einer Wiedererweckung zu sprechen. Denn eigentlich gibt es den Ortsverband seit 1876. Einst, bei der Landtagswahl 1930 war die SPD hier mit Abstand die stärkste Partei. Doch bei der ersten sächsischen Landtagswahl nach der Wende erhielten die Sozialdemokraten 1990 lediglich 16 Prozent; bei der Bundestagswahl waren es 17 Prozent. Die CDU erreichte dagegen jeweils mehr als 50 Prozent. Im Wahlkampf hatte sie mit Helmut Kohl und blühenden Landschaften geworben. Dem Bundeskanzler hatte die SPD nichts entgegenzusetzen.

Das ostdeutsche Problem der SPD

In ganz Ostdeutschland steckte die Partei in diesem Dilemma. Nur in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg stellt heute sie den Ministerpräsidenten. In Thüringen und Sachsen-Anhalt ist sie immerhin Juniorpartner in einer großen Koalition. Doch in Sachsen, dem Geburtsort der Sozialdemokratie, regiert seit der Wende die Union. Die SPD ist bloß drittstärkste Kraft. Sachsen ist CDU-Land. Die Partei gilt immer noch als Heilsbringer, auch im Erzgebirge. Davon ist Tanneberger überzeugt.

Dabei ist die Region seit Jahren das Armenhaus des Bundeslandes. Die Menschen haben 22 Prozent weniger Geld zur Verfügung als der durchschnittliche Bundesbürger, nicht selten arbeiten sie für knapp vier Euro Stundenlohn. Eine Partei mit dem Anspruch, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, sollte hier problemlos Wähler finden. Doch das gelingt nur der Linken. Der nahtlose Übergang durch die PDS hat ihr geholfen, Strukturen aufzubauen. Vor Ort geriert sie sich als Kümmerer.

Der SPD ist es dagegen nie gelungen, einen stabilen Kreisverband zu schaffen, eine Person aus der Region aufzubauen und dann auch zur Wahl aufzustellen. Zu jeder Bundestagswahl stand bisher ein anderer Name auf der Liste - und nur einer stammte aus der Region.

Dieses Jahr heißt der Spitzenkandidat Manfred Gunkel. Er hat in Olbernhau lediglich eine Zweitwohnung und kommt aus dem fast 200 Kilometer entfernten Görlitz - und stammt eigentlich aus Berlin, Westberlin. Keiner von hier also. Zudem war Gunkel so schwer erkrankt, dass er gar keine Wahlkampfauftritte in der Region übernehmen konnte.

Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Bundespolitik. Eine Partei, die vor Ort kaum präsent ist, wird noch stärker am Erscheinungsbild des Spitzenpersonals gemessen. Die Auswirkungen der Hartz-IV-Reformen und der Agenda 2010 haben der SPD bei der vergangenen Bundestagswahl noch immer zehn Prozentpunkte gekostet. Im sozial schwachen Erzgebirge schmierte die Partei von 20 auf zwölf Prozent ab.

Und jetzt noch Steinbrück und seine Pannen. Dass die Medien das so ausschlachten, findet Tanneberger unmöglich. Er mag Steinbrück. Doch es nützt nichts. Regelmäßig hört er, dass man ihn, Tanneberger auf kommunaler Ebene wählen würde - wenn er nicht in der SPD wäre.

Einen der größten Fehler habe sein Ortsverband direkt nach der Wende begangen, gesteht Tanneberger: "Wir hätten uns damals gegenüber den ehemaligen SED-Mitgliedern nicht so vehement verweigern sollen."

Denn während die SPD vor sich hindümpelt, ist die Linke im Erzgebirgskreis vergleichsweise stark. Zur Bundestagswahl 2009 gewann sie drei Punkte hinzu und erreichte 25 Prozent - mehr schaffte nur die CDU. Nach der Wende sammelte sie die ehemaligen SED-Mitglieder mit der PDS ein. Der Frust über die zusammenbrechende Industrie brachte ihr zusätzlich Protestwähler.

Anders als die SPD ist die Linke für ihre Wähler da - sei es durch die starke Präsenz in Gemeinde- und Stadträten oder in der Rolle des Kümmerers. Die Mitglieder helfen Rentnern sogar beim Einkauf. Die Strategie funktioniert so gut, dass selbst ein CDU-Politiker nur Gutes über die Partei zu sagen hat, die ihm doch eigentlich spinnefeind sein müsste. Mario Tischendorf sitzt mit der Linken gemeinsam im Seiffener Gemeinderat. Seiffen ist als Weihnachtswunderland weltweit bekannt, hier werden Räuchermännchen, Nussknacker und Holz-Pyramiden hergestellt. "Das sind gute, sehr tolerante Leute", sagt Tischendorf. Auch wenn viele "Übriggebliebene" seien.

Der 40-Jährige denkt derzeit darüber nach, seine Partei zu verlassen. Sie versage ihm den politischen Aufstieg. Nur weil er kein Christ sei, sagt er. Die Linken hätten angeboten, ihn aufzunehmen. Obwohl sie ihn scherzhaft als "Ausbeuter" beschimpfen, weil er eine eigene Firma hat. Während des Gesprächs ruft einer der linken Gemeinderäte aus dem Urlaub an und fragt, wie es Tischendorf geht. "Das meine ich", sagt er, als er aufgelegt hat. "Diese Lockerheit." Über die SPD sagt der Unternehmer nur: "Tja, wenn die zwei Parteien zueinanderfinden würden, dann sehe es für die Sozialdemokraten vielleicht ganz anders aus."

Auf Bundesebene hackt die Linke derzeit genüsslich auf der SPD herum - im Erzgebirge ist es nicht anders. Nur, dass sie es hier aus der Position des Überlegenen heraus tut. Die SPD sei unglaubwürdig, schon immer habe sie das Volk beschissen, schimpft einer auf dem Marktplatz in Lößnitz. Hier sucht die Linke an ihrem Stand jeden Mittwoch das Gespräch mit den Anwohnern. Gerade ist Mittagszeit, viele Leute sind zu Hause und die Genossen in der prallen Sonne unter sich.

Der Ortsverbandsvorsitzende, klein und drahtig, stemmt die Hände in die Seite und erzählt, dass er 1960 in die SED eingetreten sei. "Nach der Wende war klar: Ich gehe zur PDS", sagt er. Eine ältere Dame mit Krückstock, kommt heran. Die frühere Lehrerin ist "Sympathisantin" und schimpft auf das Bildungssystem. "Ganz großer Mist" sei das, was nach der Wende aus dem Westen kam. "Früher konnten die Kinder kostenlos studieren."

Eine, die aus dieser Gruppe hervorsticht, ist Andrea Schrutek. Mit ihren 50 Jahren ist sie jünger als die Umstehenden. Dass sie zurückhaltender ist, liegt vielleicht an ihrer etwas anderen politischen Vergangenheit. Zwar wurde sie mit 18 SED-Mitglied, aber sie folgte nur dem Vorbild der Eltern. "Ich wurde kurz nach der Wende als Karteileiche aussortiert", sagt sie.

2002 hätte sie fast Schröder gewählt, um Stoiber zu verhindern. Dann stimmte sie doch für die PDS. Eingetreten ist sie erst 2005. "Ich war davor neun Monate arbeitslos und wollte endlich etwas mit meinem Leben anfangen", sagt sie. Jetzt, acht Jahre später, ist sie Direktkandidatin der Linken im Erzgebirge. Doch ihre Chancen sind nicht besonders gut, denn Schrutek steht nur auf Platz 13 der Landesliste.

SPD-Direktkandidat Wolfgang Gunkel landete dagegen bei der SPD-Landesliste immerhin auf Platz fünf und hat damit gute Chancen in den Bundestag einzuziehen - vorausgesetzt die Sozialdemokraten schneiden im Erzgebirge nicht noch schlechter ab als 2009.

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