Brexit-Endspurt:Der Brexit-Endspurt ist nichts für Zimperliche

Premier Cameron kämpft um jede Stimme, Boris Johnson küsst einen Lachs und der Justizminister verstört mit der wohl krudesten These des Wahlkampfs.

Von Christian Zaschke, London

David Cameron ist kein großer Freund von Arbeit am sehr frühen Morgen. Der britische Premierminister lässt den Tag gerne ruhig angehen, er gönnt sich morgens ein wenig Zeit mit seiner Familie. Am Mittwoch aber machte er eine Ausnahme. Zunächst sprach er im Frühprogramm des BBC-Radios, anschließend fuhr er mit dem früheren Premier John Major und der ehemaligen Labour-Chefin Harriet Harman nach Bristol, um gemeinsam dafür zu werben, dass die Briten sich in der Volksabstimmung an diesem Donnerstag für den Verbleib in der EU entscheiden.

Den ganzen Tag über war Cameron im Land unterwegs, um die letzten noch unentschiedenen Wähler zu überzeugen. Die Umfragen zeigen: Es wird vermutlich knapp. Jede Stimme könnte zählen.

Entsprechend zeitig waren auch die Gegner der Mitgliedschaft unterwegs. Der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, ohnehin Frühaufsteher, zeigte sich im Licht der Dämmerung am Billingsgate-Fischmarkt in Ost-London. Dort erläuterte er, dass Großbritannien zum Wohle der Fisch-Industrie aus der EU austreten müsse und küsste für die Fotografen einen Wildlachs.

Gefragt, wie es war, den Lachs zu küssen, sagte Johnson, er habe in Australien schon einmal ein Krokodil geküsst. Damit war ihm gewohnt mühelos der Übergang zum Thema Immigration gelungen, denn Australien, führte er aus, sei ein Vorbild mit seiner Einwanderungspolitik, die auf einem Punktesystem basiert. Zwar hat Johnson in der Vergangenheit gesagt, das australische System sei für Großbritannien nicht geeignet, doch er hat seine Meinung geändert.

Brexit-Endspurt: Boris Johnson küsst einen Lachs.

Boris Johnson küsst einen Lachs.

(Foto: AP)

Der heimliche Star der Brexit-Gegner ist eine konservative Schottin

Die Einwanderung war auch das beherrschende Thema der letzten großen Fernsehdebatte, die am Mittwochabend in der Londoner Wembley-Arena stattfand. 6000 Zuschauer waren gekommen, um den Argumenten für und wider die Mitgliedschaft in der EU zu lauschen. Johnsons Nachfolger als Londoner Bürgermeister, der Labour-Politiker Sadiq Khan, warf den EU-Gegnern vor, mit ihrer Anti-Immigrations-Rhetorik das "Projekt Hass" zu betreiben. Johnson sagte, er sei für Einwanderung, aber eben für eine kontrollierte. In seiner Abschlussrede rief er, dieser Donnerstag könne "unser Unabhängigkeitstag" werden, was von der Hälfte der Zuschauer ausdauernd bejubelt wurde. Johnson zeigte erneut, dass er der mit Abstand charismatischste und effektivste Redner unter den EU-Gegnern ist.

Heimlicher Star der TV-Debatte war allerdings die Chefin der schottischen Konservativen, die 37 Jahre alte Ruth Davidson. Außerhalb Schottlands war sie bisher kaum in Erscheinung getreten, es war ihr erster Auftritt auf der ganz großen Bühne. Wieder und wieder übernahm sie die Initiative, sie machte sich über Johnson lustig, wenn dieser sich mal wieder nicht allzu genau an die Fakten hielt, sie sprach mit so viel Wucht und Verve, dass der Buchmacher William Hill die Quoten auf die Wette senkte, dass Davidson eines Tages Chefin der gesamtbritischen Konservativen Partei wird. Das war umso bemerkenswerter, als Johnson und Davidson Parteifreunde sind, und es Johnson ist, der den Parteivorsitz fest im Blick hat.

Der Justizminister? Ist wohl durchgedreht, sagt der Premier

Was den EU-Gegnern in den vergangenen Tagen am meisten zu schaffen machte, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Experten von einem Austritt abrät. Unter anderem haben der Internationale Währungsfonds, die Bank von England sowie zehn Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften vor den ökonomischen Folgen gewarnt.

Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party, wies die Warnungen am Mittwoch mit dem Hinweis zurück, dies sei lediglich die Ansicht der Eliten; es handele sich bei der Abstimmung über die EU um den "Kampf des Volkes gegen das Establishment". Zuvor hatte er stets vom "Kampf gegen die politische Klasse" gesprochen; diese Formulierung hat er nach dem Mord an der EU-freundlichen Abgeordneten Jo Cox in der vergangenen Woche jedoch geändert. Gefragt, wo er seine politische Zukunft sehe, falls die Mehrheit sich für die Mitgliedschaft in der EU entscheide, sagte er: "Fragen Sie einen General, der in die Schlacht zieht, nicht, was er danach vorhat. Es wird knapp, aber ich gehe davon aus, dass wir gewinnen."

Eine der krudesten Thesen des gesamten Wahlkampfs präsentierte derweil Justizminister Michael Gove, einer der führenden EU-Gegner der Konservativen. In einem Radio-Interview erläuterte er, sogenannte Experten lägen nicht immer richtig. Das zeige sich zum Beispiel daran, wie deutsche Wissenschaftler in den 1930er-Jahren gegen Albert Einsteins Theorien gehetzt hätten, weil dieser Jude war. Sie seien von der Nazi-Regierung bezahlt worden, um die Unwahrheit über Einsteins Arbeit zu sagen.

Cameron, der vor dem Wahlkampf eng mit Gove befreundet war, merkte am Mittwoch an, die Äußerung sei ein "massiver Fehler" gewesen. Gove sei jetzt wohl "durchgedreht". Der Minister entschuldigte sich im Laufe des Tages für seine, wie er sagte, "ungeschickten und unangemessenen Aussagen".

Die Brexit-Befürworter hoffen auf schlechtes Wetter

Der Ton in dieser seit Wochen äußerst intensiv geführten Debatte blieb bis zuletzt schrill. 46,5 Millionen wahlberechtigte Einwohner des Vereinigten Königreichs sind nun zur Abstimmung aufgerufen, um über die Zukunft ihres Landes und damit mittelbar auch der Europäischen Union zu entscheiden.

Für Donnerstag sagen Meteorologen schwere Regenfälle und Gewitter voraus in weiten Teilen der britischen Inseln. Das könnte den Brexit-Befürwortern helfen, weil Meinungsforscher erwarten, dass schlechtes Wetter sie jedenfalls kaum vom Gang zum Wahllokal abhalten würde. Die sind an diesem Donnerstag bis 22 Uhr geöffnet (23 Uhr deutsche Zeit). Zu diesem Zeitpunkt werden die jüngsten Umfragen veröffentlicht, es gibt jedoch, anders als bei Parlamentswahlen, keine offizielle Prognose.

Erste Ergebnisse sollen gegen Mitternacht eintreffen. Wie es ausgegangen ist, wird sich am frühen Freitagmorgen abzeichnen. Es ist fest davon auszugehen, dass David Cameron erneut eine Ausnahme von seiner sonst so ruhigen morgendlichen Routine macht.

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