Wahlkampf:Viel News um wenig Fake

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Seit Monaten warnen Politiker und Medien vor Falschmeldungen. Experten bezweifeln inzwischen, ob deren Einfluss wirklich so groß ist wie befürchtet.

Von Simon Hurtz, München

An einem Donnerstagmorgen Ende Mai sagt Margot Käßmann einen Satz, der sie wochenlang verfolgen wird. Auf dem Kirchentag kritisiert die Theologin die Familienpolitik der AfD, die "eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung" fordert. Das erinnere sie an den "Arierparagrafen" der Nationalsozialisten. "Bio-deutsch soll nämlich bedeuten: zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern, und da weiß man, woher der braune Wind dann wirklich weht." Die AfD verkürzt dieses Zitat, sie suggeriert, Käßmann hätte alle Deutschen ohne Migrationshintergrund als Nazis bezeichnet. Frauke Petry, Jörg Meuthen und Beatrix von Storch befeuern die Empörung, ihre Facebook-Posts werden tausendfach geteilt.

Für Alexander Sängerlaub zeigt der Fall, wie sich Falschmeldungen verbreiten. Der Kommunikationswissenschaftler hat für den Think Tank "Stiftung Neue Verantwortung" untersucht, wie Fake News entstehen. "Es ist fast immer das gleiche Muster", sagt er. "Erst schlampen Journalisten, dann entwickeln rechtspopulistische Akteure Fake News daraus." Geschlampt hat in diesem Fall der Evangelische Pressedienst, der die Aussage so unglücklich durch den Einschub "sagte Käßmann am Donnerstagmorgen" unterbrach, dass der Bezug nicht mehr eindeutig war. Doch um Käßmann einen Nazi-Vergleich in den Mund zu legen, müsse man sie schon missverstehen wollen.

In vielen Online-Shops und Portalen soll künftig die Handynummer genügen, um sich zu identifizieren (Foto: Emilio Morenatti/AP)

Seiner Studie hat Sängerlaub eine enge Definition von Fake News zugrunde gelegt. Clickbaiting, Satire oder Zeitungsenten zählen nicht dazu. Es geht um das gezielte Verbreiten irreführender oder falscher Inhalte, meist um dem politischen Gegner zu schaden. Insbesondere die AfD nimmt jedes Angebot an, das ihr Medien machen. So war es Ende 2016, als eine türkisch-deutsche Schule angeblich Weihnachten verbieten wollte. Im Februar, als angeblich ein "Sex-Mob tobte". Im August, als eine große Boulevardzeitung die angeblich geringe Schulbildung jugendlicher Flüchtlinge beklagte. Alle Nachrichten wurden von mehr oder weniger seriösen Zeitungen in die Welt gesetzt und verbreiteten sich viral in sozialen Netzwerken. Jedes Mal bediente sich die AfD und bestärkte die empörten Leser.

Zu den Fake News, die ihren Ursprung in klassischen Medien haben, kommt erfundene politische Propaganda von dubiosen Internetseiten. Schlagzeilen wie "Angela Merkel: Deutsche müssen Gewalt der Ausländer akzeptieren" sammeln auf Facebook mehrere Hunderttausend Interaktionen, also Likes, Shares und Kommentare. Einer Buzzfeed-Analyse zufolge waren sieben der zehn erfolgreichsten Meldungen über die Kanzlerin Fake News.

Dennoch warnt Alexander Sängerlaub vor Alarmismus. "Die Masse der Fake News hält sich in Grenzen", sagt er. Außerdem dürfe man große Verbreitung nicht mit großem Einfluss gleichsetzen. "Die meisten Menschen misstrauen Meldungen, die sie in sozialen Medien sehen und glauben nicht alles, was sie dort lesen." Erhebungen wie der Digital News Report der Universität Oxford geben ihm recht. Weniger als ein Drittel der Befragten informiert sich in sozialen Netzwerken über das Nachrichtengeschehen (USA: 67 Prozent), für gerade einmal sieben Prozent sind sie die wichtigste Informationsquelle (USA: 20 Prozent). Nach wie dominieren klassische Medien, allen voran das Fernsehen. Wenn ein Tagesschau-Redakteur eine Statistik einseitig interpretiert, beeinflusst das mehr Menschen als eine wirre Hetz-Seite, die Propaganda verbreitet.

Sollte die AfD als drittstärkste Fraktion in den Bundestag einziehen, taugen Fake News zumindest aus Sicht des Experten nicht als Erklärung. Seit Wochen bestimmten die Themen Flüchtlinge und innere Sicherheit den Wahlkampf. "Die AfD hat schlicht extrem erfolgreiches Agenda-Setting betrieben", sagt Sängerlaub. Außerdem seien Fake News keine exklusive Strategie der Rechten. Seit Anfang der Woche verbreitet sich ein Zitat von Alexander Gauland in sozialen Medien. Zehntausende Menschen empören sich über den Geschichtsrevisionismus des AfD-Spitzenkandidaten und merken nicht, dass sie den Satirikern von "Die Partei" aufgesessen sind, die sich das Zitat ausgedacht hatten. Die "Bullshit-Empfänglichkeit", wie es Forscher der Yale-Universität in einer Studie nennen, sei keine Frage der politischen Haltung. Entscheidender sei die Bereitschaft, kritisch und analytisch zu denken. "Erst denken, dann teilen" gilt also für alle Menschen, egal wen sie am Sonntag wählen.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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